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Münster (upm).
Durch Social Media können wir unsere Stimmungen, Erlebnisse und Meinungen auch mit Menschen über unser unmittelbares Umfeld hinaus teilen. Privatheit ist dabei nicht egal – sie wird aber neu definiert.<address>© stock.adobe.com - ibravery</address>
Durch Social Media können wir unsere Stimmungen, Erlebnisse und Meinungen auch mit Menschen über unser unmittelbares Umfeld hinaus teilen. Privatheit ist dabei nicht egal – sie wird aber neu definiert.
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Warum wir Privatheit neu denken müssen

Moderne Möglichkeiten der Vernetzung erfordern ein angepasstes Verständnis der Privatsphäre

Im digitalen Zeitalter sind uns die Welt und andere Menschen so unmittelbar zugänglich wie nie zuvor. Noch nie war es so leicht, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, Erfahrungen zu teilen und soziale Beziehungen zu pflegen. Wir teilen Urlaubsfotos, welche Bücher wir gelesen haben, alltägliche Erlebnisse und vieles mehr. Worüber wir uns einst nur mit wenigen Menschen in unserem direkten Umfeld austauschen konnten, ist nun oft dank des Internets und der sozialen Medien für alle zugänglich.

Neben all den Vorteilen, die diese Offenheit und Vernetzung mit sich bringen, scheint eines jedoch auf der Strecke zu bleiben: unsere Privatheit. Wenn alles über uns, vor allem unsere persönlichen Informationen, anderen zugänglich sind, was ist dann überhaupt noch privat? Wenn der Tod der Privatheit besungen wird, ist es meist genau diese Dichotomie zwischen Privatem und Öffentlichkeit, die diesem pessimistischen Urteil zugrunde liegt. Persönliche Informationen sind entweder privat oder öffentlich, aber nie beides. Mit jedem Teilen verringert sich unsere Privatheit. Der einzige Weg, die eigene Privatheit zu schützen, wäre, persönliche Informationen geheimzuhalten und sich vom Zugriff Dritter abzuschirmen.

Karen Meyer-Seitz promovierte am Fachbereich Geschichte/Philosophie der Universität Münster zum Thema „Rethinking Privacy. How to take care of what we know about others“.<address>© privat</address>
Karen Meyer-Seitz promovierte am Fachbereich Geschichte/Philosophie der Universität Münster zum Thema „Rethinking Privacy. How to take care of what we know about others“.
© privat

Dieses vielleicht auf den ersten Blick stimmige Verständnis stößt jedoch in unserer Realität an seine Grenzen. Debatten um Privatheit fokussieren sich in der Regel auf Fälle, in denen uns daran gelegen ist, möglichst wenig zu teilen oder wir die Befürchtung haben, dass der Zugriff auf unsere Daten durch Dritte negative Folgen haben könnte. Dann ist es naheliegend, Privatheit und Geheimhaltung in ein derart enges Verhältnis zu setzen. Doch dabei gerät aus dem Blick, dass das Teilen von persönlichen Informationen ein essenzieller Aspekt unserer sozialen Praxis ist. Nur wenn wir uns anderen gegenüber öffnen, können wir das Vertrauen und die Nähe aufbauen, die wir brauchen, um verlässliche soziale Beziehungen aufzubauen. Eine Freundschaft mit einer Person, die nichts über sich preisgibt, ist schlicht unmöglich.

Dem eben skizzierten Verständnis von Privatheit zufolge müsste man sagen, dass wir in diesen Fällen ebenfalls unsere Privatheit verringern. Auch hier werden private Informationen öffentlich. Doch offensichtlich empfinden wir einen Unterschied zwischen dem ungewollten Teilen mit Fremden und dem offenen Teilen mit Bekannten. Die Erklärung, dass uns im zweiten Fall unsere Privatheit schlicht egal ist, etwa wenn wir über die sozialen Medien Urlaubsfotos teilen, halte ich für falsch. Wir messen unserer Privatheit einen signifikanten Wert bei – warum sollte das ausgerechnet hier anders sein?

Ich schlage daher eine neue Perspektive auf Privatheit vor: Sie fokussiert sich weniger auf Geheimhaltung als auf die soziale Funktion, die Privatheit für uns hat. Wenn wir uns jemandem mitteilen, vertrauen wir darauf, dass unser Gegenüber das Geteilte nicht gegen uns verwendet, das Teilen also keine negativen Konsequenzen für uns hat. Befinden wir uns in einem hierfür passenden Kontext, fällt es uns leicht, uns anderen gegenüber zu öffnen. Können wir hingegen die Konsequenzen nicht oder nur schwer abschätzen, entscheiden wir uns eher für Geheimhaltung und Abschirmung.

Unsere Privatheit bleibt unberührt, wenn dieses Vertrauen eingehalten wird. Die andere Person erkennt dabei an, dass es bestimmte Lebensbereiche gibt, die privat sind und die jede Person entsprechend so gestalten und organisieren kann, wie sie es für richtig hält. Wenn sie entsprechendes Wissen erlangt, zum Beispiel darüber, wie jemand sich kleidet, wie viel Sport er macht, oder welche sexuelle Orientierung er hat, geht sie mit diesem Wissen verantwortungsvoll um und schränkt diesen Gestaltungsspielraum, den die Privatheit einer Person ermöglicht, nicht ein. Wird dieser Gestaltungsspielraum hingegen beschnitten, etwa durch soziale Sanktionen oder Ausgrenzung, vermindert sich die Privatheit einer Person. Entscheidend ist somit nicht das Teilen der Information an sich, sondern was infolgedessen passiert und wie die empfangene Person reagiert.

Nur wenn ein Mensch Privatheit genießt und darauf vertrauen kann, dass andere diese Hoheit über bestimmte private Lebensbereiche auch achten und in ihrem Handeln beherzigen, ist es ihm möglich, sich ohne Bedenken diesen Personen gegenüber zu öffnen. Privatheit ist somit kein Gegner dieser notwendigen sozialen Praxis, sondern das, was sie überhaupt erst ermöglicht. Der Schutz der eigenen Privatheit ist daher nicht jedem selbst zu überlassen, sondern muss als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Nur wenn wir die Privatheit aller als schützenswert anerkennen und uns entsprechend verhalten, ermöglichen wir es uns selbst, ohne Sorge um unsere Privatheit anderen gegenüber offen zu sein, am Leben anderer wirklich teilhaben zu können und so als Gemeinschaft enger zusammenzurücken.

Ein Gastbeitrag von Karen Meyer-Seitz

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2024.

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