„Abbauwege für Chemikalien können sich in wenigen Jahrzehnten entwickeln“
Ein Team um Prof. Dr. Bodo Philipp und Dr. Johannes Holert vom Institut für Molekulare Mikrobiologie und Biotechnologie hat in Münsters Abwasser Bakterien gefunden, die eine Substanz namens „TRIS“ (Trishydroxymethylaminomethan) vollständig abbauen können, und den Stoffwechselweg aufgeklärt. TRIS wird unter anderem zur Stabilisierung des pH-Werts eingesetzt und landet oft im Abwasser; es wird sehr häufig verwendet und gilt als unschädlich. Der TRIS-Stoffwechselweg ist evolutionär betrachtet neu – höchstens wenige Jahrzehnte alt, vermuten die Forscherinnen und Forscher. Im Gespräch mit Christina Hoppenbrock erklärt Bodo Philipp, welche Rolle neue mikrobielle Stoffwechselwege bei der Säuberung des Abwassers spielen können, und wieso Kläranlagen ein guter Ort sind, um die Evolution von Bakterien zu erforschen.
Was ist das Spannende an den Mikroorganismen, die Sie erforschen?
Es gibt Tausende von Pestiziden, Herbiziden, Arzneimitteln und anderen Chemikalien, die Menschen herstellen. Viele davon gelangen über das Abwasser in die Umwelt. Ein Teil dieser überwiegend auf Kohlenstoff basierenden, also organischen Substanzen wird durch bestehende biologische Stoffwechselwege abgebaut. Andere Stoffe reichern sich an, weil es keine Abbaumechanismen gibt. Das kann problematisch sein, denken Sie zum Beispiel an die weit verbreitete Gruppe der per- und polyfluorierten Chemikalien, die extrem langlebig sind und lebenden Organismen schaden können. Einige solcher organischen Spurenstoffe stehen beispielsweise unter Verdacht, sich negativ auf die menschliche Fortpflanzung auszuwirken. In den vergangenen Jahrzehnten haben Forschungsteams aus aller Welt jedoch immer mehr Abbauwege für persistente organische Chemikalien entdeckt – in Bakterien und anderen Mikroorganismen. Das deutet darauf hin, dass sich die Abbauwege nach dem ersten Kontakt mit solchen Chemikalien innerhalb von wenigen Jahrzehnten in der Gemeinschaft der Mikroorganismen entwickeln können.
Und eine Kläranlage ist ein guter Ort, um diese Evolution zu untersuchen?
Auf jeden Fall. Es wimmelt dort natürlich von Mikroorganismen, die um viele verschiedene organische Substanzen konkurrieren, angefangen bei den leicht abbaubaren Fäkalien bis hin zu den schwer oder gar nicht abbaubaren organischen Spurenstoffen. Bakterien, denen es gelingt, bis dato nicht abbaubare Stoffe als Nahrung zu nutzen, können der Konkurrenz entgehen – beziehungsweise auch dann noch wachsen, wenn die Fäkalien abgebaut sind. In Kläranlagen herrscht also ein Selektionsdruck vor, der die Evolution neuer Stoffwechselwege begünstigen könnte.
Ein Zufall hat Sie zu Ihrer Entdeckung geführt. Was ist passiert?
Bundesweit ist derzeit die vierte Reinigungsstufe ein Thema, mit der in Klärwerken organische Spurenstoffe herausgefiltert werden sollen. Viele Anlagen wurden oder werden nachgerüstet. Eine Frage ist, inwiefern man systematisch Bakterien einsetzen kann, die solche Spurenstoffe abbauen. In unserer Gruppe interessieren wir uns für Bakterien, die häufig im Abwasser vorkommende Steroidhormone abbauen. Wir haben im Labor gemerkt, dass einige der von uns in der Kläranlage in Münster-Coerde gesammelten Bakterien in reinem TRIS-Puffer wuchsen und keine weitere Nahrung brauchten. Das hatten wir nicht erwartet. TRIS ist eine Komponente des Nährmediums, die dafür sorgt, dass der pH-Wert stabil bleibt.
Was zeichnet den von Ihnen gefundenen Stoffwechselweg aus?
TRIS wird vollständig abgebaut und ermöglicht den Bakterien Wachstum. Der Weg besteht aus zwei genetischen Bausteinen, die vermutlich aus ursprünglich unabhängigen Stoffwechselwegen stammen und die die Evolution zusammengeführt hat. Der eine Baustein ist wohl schon alt und bei einigen Bakterien Teil des Stoffwechsels für den Abbau ungewöhnlicher Aminosäuren. Der andere scheint durch Mutation und Selektion erst in der jüngeren Vergangenheit entstanden zu sein. Nur beide Module zusammen ermöglichen den TRIS-Abbau. Interessant ist, dass die beteiligten Gene nur dann aktiv werden, wenn tatsächlich TRIS vorhanden ist. Es gibt also einen Regulationsmechanismus, und das ist ein Indiz dafür, dass es einen komplexen Evolutionsprozess gab. Die Gene für den TRIS-Abbau liegen nicht im Bakterienchromosom, also im zentralen Erbgut, sondern innerhalb von bakterientypischen Plasmiden ...
… wenn das Bakterienchromosom ein Handbuch mit einer Bauanleitung ist, sind Plasmide so etwas wie Flyer, die den Bauplan ergänzen.
Genau. Die Plasmid-DNA kann sich unabhängig von der chromosomalen DNA vervielfältigen. Und der Clou ist: Die Bakterien tauschen die Plasmide durch sogenannten horizontalen Gentransfer untereinander aus – über Artgrenzen hinweg. Wir entdeckten den TRIS-Abbau ursprünglich bei Bakterien der Gattung Pseudomonas in Proben aus Coerde und später auch in anderen Abwasserproben aus Münster und Hamm – in Pseudomonas, aber auch in der Bakteriengattung Shinella. Im Labor haben wir nachgewiesen, dass die von uns isolierten Pseudomonas-Bakterien den TRIS-Abbau auf einen anderen Pseudomonas-Stamm übertragen können.
Haben Sie eine Vermutung, seit wann es diesen Stoffwechselweg gibt und wie er sich verbreitet hat?
TRIS ist seit etwa 70 Jahren auf dem Markt. Wir schätzen, dass der TRIS-Abbau vor höchstens 50 Jahren entstanden ist, möglicherweise im Abwasser eines großen Forschungslabors oder eines Krankenhauses. Dort kommt TRIS in hohen Konzentrationen vor, anders als in Kläranlagen. Über solche Abwässer könnten die TRIS-abbauenden Bakterien dann in die Kläranlagen gelangt sein, wo sie sich ausbreiteten. Die Gene für den TRIS-Abbau haben wir auch in Datenbanken gefunden; sie stammen von Bakterien, die in Korea und China isoliert wurden. Ob diese Bakterien auch TRIS abbauen können, ist allerdings nicht bekannt. Wir wissen auch nicht, ob der Stoffwechselweg mehrfach entstanden ist. Mikroorganismen können durch internationalen Personen- und Güterverkehr verteilt und die Plasmide können leicht übertragen werden. Von daher könnte der TRIS-Abbau auch von einem Ursprungsort aus weltweit verteilt worden sein.
Der Abbau von Chemikalien, die nicht aus dem Abwasser gefiltert werden können, ist eine gute Nachricht – auch wenn es, wie in diesem Fall, nicht um einen Problemstoff geht. Sonst wird die Evolution von Mikroorganismen oft als ein bedrohliches Szenario diskutiert, zum Beispiel im Zusammenhang mit Antibiotikaresistenzen …
Das ist die Kehrseite der Medaille. Antibiotika sind auch Teil des Abwassers, und die Bakterien dort unterliegen daher dem Selektionsdruck, Resistenzgene zu erwerben. Diese Gene gibt es ja längst. Sie werden unter den Bakterien durch horizontalen Gentransfer weitergegeben, genau wie die Fähigkeit zum TRIS-Abbau, und gelangen in die Umwelt. Die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen ist ein ernstzunehmendes Problem.
Ein anderer Problemabfall ist Plastik, das in die Umwelt gelangt.
Bislang gibt es kaum Bakterien, die Plastik abbauen können. Aber ich gehe davon aus, dass es im Laufe der nächsten Jahrzehnte mehr werden. Auch dabei wird es eine Kehrseite geben: Unter feuchten Bedingungen könnten solche Bakterien auch dort knabbern, wo sie es nicht sollen. Ich denke zum Beispiel an Kunststoffisolierungen von Kabeln, die in der Erde liegen.
Könnte man der Evolution auf die Sprünge helfen und Bakterien „maßschneidern“, um Abfälle aus dem Wasser herauszubekommen?
Was wir beobachtet haben, hätte man auch gentechnisch erzielen können, allerdings nur mit großem Aufwand. Aber man darf keine gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt bringen. Man kann jedoch Mikroorganismen im Labor einem hohen Selektionsdruck auszusetzen, um, ähnlich wie in der Pflanzenzucht, diejenigen auszuwählen, die unter diesen Bedingungen durch natürliche Evolutionsprozesse entstanden sind.
Zur AG Philipp
Prof. Dr. Bodo Philipp und sein Team untersuchen Mikroorganismen in natürlichen und technischen Gewässern der Region. Das Münsterland ist für diese Forschung eine gut geeignete Modellregion: Einerseits gibt es den urbanen Raum, andererseits Landwirtschaft und Industrie. So können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Einflüsse der verschiedenen Standortfaktoren auf die Gewässer erfassen. In künftigen Projekten möchten sie den Bogen zu gesellschaftlich relevanten Fragen schlagen, beispielsweise zum Umgang mit der Ressource Wasser angesichts des Klimawandels und zur Rolle, die Mikroorganismen beim Wassermanagement spielen könnten. Das Team ist Teil des interdisziplinären „Netzwerk Wasser“ und des Zentrums für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN) an der Universität Münster. Außerdem arbeitet das Team mit dem Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME in Schmallenberg zusammen.
Originalveröffentlichung
Johannes Holert, Aron Borker, Laura Lucia Nübel, Rolf Daniel, Anja Poehlein, Bodo Philipp (2024): Bacteria use a catabolic patchwork pathway of apparently recent origin for degradation of the synthetic buffer compound TRIS, The ISME Journal, Volume 18, Issue 1, wrad023; DOI: 10.1093/ismejo/wrad023