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Münster (upm/ap).
Der Soziologe Prof. Dr. Joachim Renn (links) und der Biologe Prof. Dr. Jürgen Gadau mit Fossilien von Trilobiten. Die Gliederfüßer lebten auf dem Meeresboden und sind vor etwa 250 Millionen Jahren ausgestorben.<address>© Uni MS - Linus Peikenkamp</address>
Der Soziologe Prof. Dr. Joachim Renn (links) und der Biologe Prof. Dr. Jürgen Gadau mit Fossilien von Trilobiten. Die Gliederfüßer lebten auf dem Meeresboden und sind vor etwa 250 Millionen Jahren ausgestorben.
© Uni MS - Linus Peikenkamp

„Evolution ist blind, aber nicht zufällig“

Zum Darwin-Tag sprechen ein Biologe und ein Soziologe über Evolution

Charles Darwin, Begründer der Evolutionstheorie, wurde am 12. Februar 1809 geboren. Seit 1995 wird an seinem Geburtstag der Darwin-Tag begangen, um seinen herausragenden Beitrag zur Wissenschaft zu würdigen. Aus diesem Anlass sprechen der Biologe Prof. Dr. Jürgen Gadau vom Institut für Evolution und Biodiversität und Prof. Dr. Joachim Renn, der am Institut für Soziologie zu soziokultureller Evolution forscht, im Interview mit Anke Poppen über ihre Arbeit mit der Evolutionstheorie.

 

Was war das Revolutionäre an Darwins Erkenntnissen?

Jürgen Gadau: Bis Darwin hielt sich die Vorstellung, dass das Leben auf einen einmaligen geplanten göttlichen Schöpfungsakt zurückgeht. Jetzt wissen wir: Variation, Vererbung und Selektion sind die Grundpfeiler für die Erklärung des Ursprungs, der Vielfalt und der graduellen Entwicklung allen Lebens. Das war vor Millionen von Jahren so und ist heute nicht anders. Diese Erkenntnis haben wir Darwin zu verdanken.

Joachim Renn: Die Evolutionstheorie erklärt Entwicklung gewissermaßen von hinten, ohne von einem Ursprung oder von einer Zielgerichtetheit auszugehen. Damit ist Darwins Erklärungsweise revolutionär: Alles verändert sich stetig und ist kontingent, das bedeutet, alles könnte auch anders sein, nimmt dann aber Ordnung an und bildet Pfadabhängigkeiten. Dies wird sichtbar durch eine funktionalistische Perspektive. Hier gibt es eine Parallele zu Karl Marx. Er verbindet funktionale Analyse und normative Bewertung: wo Evolution war, soll vernünftige Entwicklung sein.

Wie kann man sich das vorstellen?

Renn: Laut Darwin lässt sich über die Funktionalität einer Variation im Nachhinein erklären, warum genau diese Variation selektiert wurde. Nach Marx gilt das auch für Wirtschaftsweisen, gleichzeitig hatte er hatte aber die Vorstellung, dass nach der Evolution eine planbarere Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus möglich ist. Nach der Steuerungseuphorie und dem Fortschrittsdenken der 1970er Jahre stellen wir nun fest: Soziale Prozesse laufen eher evolutionär ab, sie sind nicht komplett planbar. Dazu müssen wir uns auf neue Art verhalten lernen. Die Frage ist also wieder aktuell.

Was bedeuten Selektionsmechanismen aus biologischer und soziologischer Perspektive?

Gadau: Evolution ist blind, aber nicht zufällig. Auf genetischer Ebene entstehen immer Mutationen, unabhängig davon, ob das Individuum diese in seiner jeweiligen Umwelt gerade braucht. Zum Beispiel Mutationen, die Corona-Resistenzen erzeugen. Sie sind aber nur dann von selektivem Vorteil, wenn das Virus auftritt und die Resistenz Überleben und Fortpflanzung seiner Träger beeinflusst. Bleibt die Umwelt über längere Zeit konstant, kann sich diese Mutation in der Population ausbreiten. Ändert sich die Umwelt, kann sie auch wieder verloren gehen. Es ist ein ewiger Kreislauf: Umweltbedingungen ändern sich und damit der Selektionsdruck. Die Zusammensetzung der Individuen einer Population ändert sich über Generationen und passt sich der jeweiligen Umwelt an, dadurch verändert sich wiederum die Umwelt und so weiter.

Renn: Zum einen beeinflusst die materielle Umwelt mit ihren Ressourcen die Selektion. Denken wir an Gesellschaften, die sich direkt an Naturzyklen orientieren – Bedarfswirtschaften sind davon ungefiltert abhängig. Das zweite ist die soziale Umwelt: Hier spielen nicht nur Fragen des schlichten Überlebens eine Rolle, sondern auch rationale Prinzipien.

Was hat denn Rationalität mit Evolution zu tun?

Renn: In der Soziologie gibt es den Begriff des Wagenheber-Effekts, der zuletzt von dem amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello betont wurde. Er bezeichnet die Weitergabe und Verbesserung von kulturellen Leistungen: generative Vererbung erworbener Merkmale, etwa Arbeitstechniken, also eine Anpassung durch Lernen. Hier spielt dann Rationalität, also die entscheidende und antizipierende Intervention hinein. Durch bewusstes Kalkulieren der Umwelteinflüsse werden Entscheidungen getroffen, Erfahrungen kulturell gespeichert und so Kompetenzen weitergegeben. Die Frage ist: Ist eine bestimmte Fähigkeit für meine Nachkommen noch von Nutzen?

Also geht es letztlich doch um die Behauptung desjenigen, der sich optimal an seine Umwelt anpassen kann?

Gadau: Dass Selektion zur Herausbildung eines perfekten Typus führt, der dann ideal angepasst ist und sich gegen die Konkurrenz durchsetzt, basiert auf der falschen Vorstellung, dass es einen perfekten Typus für alle Umwelten gibt. Aber da sich die Umwelt immer ändert, ist auch die Anpassung ein stetiger Prozess. Was heute der fitteste Typus ist, kann schon in der nächsten Generation der Verlierer sein. Wir können immer erst rückblickend sagen, welche Mutation sich unter welchem Selektionsdruck durchsetzen konnte.

Renn: Auch soziokulturelle Evolution ist erst im Nachhinein erklärbar, zum Beispiel: Warum konnte sich der Kapitalismus, jedenfalls bisher, gegen den Sozialismus behaupten? So etwas geschieht relativ unabhängig von den Intentionen einzelner Personen, aber Motive und Bewertungen spielen natürlich mit hinein. Darum ist nicht allein egoistische Konkurrenz ein Umweltfaktor. Auch religiöse Bewertungen zum Beispiel entscheiden über ‚Tauglichkeit‘. Die menschliche Rationalität führt nicht zu einer Planbarkeit von Anpassungsprozessen, aber sie verkompliziert die Umwelt, in der Selektionen nicht nur überleben, sondern ‚beurteilt‘ werden.

Konkurrenzdruck und menschliche Beurteilungen können also Selektionsfaktoren sein. Wie wirkt Selektion noch?

Gadau: Oft wird vergessen, dass auch Kooperation und Altruismus durch Selektion entstanden sind. Kooperation hat sich als Gewinnstrategie erwiesen – zum Beispiel bei Ameisen, aber auch über Artgrenzen hinaus, wie bei Symbiosen. In dem Moment, wo Kooperation nicht nur unter nahen Verwandten oder Bekannten stattfand, kam es in der Menschheitsgeschichte zu einer Explosion der Population und Zunahme von sozialer Komplexität wie Arbeitsteilung. Kooperation führt dazu, dass Gesellschaften enger zusammenwachsen. Seit etwa 50 Jahren beobachten wir das an der Entstehung von Megacitys. Selektion kann also sowohl zu Kooperation als auch zu Konflikten führen, etwa bei einem Kampf um knappe Ressourcen.

Renn: Bei Ameisen- oder Insektenstaaten lässt sich die Kooperation rein funktional erklären. Menschliche Kooperation überschreitet jedoch die reine biologische Individualselektion. Wir haben eine Form des Selbstverständnisses entwickelt, die zum Beispiel religiöse Vorstellungen enthält. Dadurch entstehen normative Regulationen, die über das Kriterium des reinen Nutzens von Kooperation hinausgehen.

Sind Normen eine Erfindung des Menschen oder gibt es auch bei Tieren Normvorstellungen?

Renn: Es kooperieren natürlich auch Tiere, aber hier können wir hier nicht von normativen Erwartungshaltungen im moralisch-praktischen Sinne ausgehen. Primaten können Zeichen und Gegenstände miteinander verbinden, aber nicht Aussagen von Lügen oder von Fragen unterscheiden.

Gadau: Das stimmt. Allerdings haben auch Schimpansen und viele andere Organismen ein Verständnis von Gerechtigkeit. Das haben diverse Versuche gezeigt, bei denen sie für die gleiche Leistung eine unterschiedliche Belohnung bekommen und dies nicht akzeptiert haben.

Sehen Sie weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Erforschung des Soziallebens von Tieren und menschlichen Gesellschaften?

Renn: Die Rezeption der Evolutionstheorie ist in den Sozialwissenschaften Gang und Gäbe, auf metaphorischer wie systematischer Ebene. Metaphorisch beschreiben wir komplexe Vorgänge dann als Evolution, wenn es sich hier nicht um biologische Prozesse handelt, wir aber vergleichbare Merkmale beobachten. Eine gewisse Art des ‚Altruismus‘ von Organisationen ähnelt der Kooperation im Tierreich: Wenn sich eine Ameise für ihren Staat opfert, sprechen wir von funktionellem, also nutzenbasiertem Altruismus, weil er der Gemeinschaft bei der Anpassung hilft. Greenwashing von Unternehmen ist ein Beispiel für eine gesellschaftliche Parallele.

Inwiefern?

Renn: Große Konzerne kommunizieren, dass sie Verantwortung für die Umwelt übernehmen. Ähnlich wie sich die Ameise für den Staat opfert, suggerieren die Konzerne, dass sie zugunsten der Gesellschaft Opfer bringen, indem sie etwa auf Profit verzichten. Aber was wie ein normativ gesteuertes Wohlverhalten erscheint, folgt ökonomischer Kalkulation und bleibt funktional erklärbar. Systematisch greift die Soziologie biologische Befunde auf, wo materielle, körperliche Aspekte sozialer Zusammenhänge berührt sind: bei Fragen der Leiblichkeit, der Gesundheit und der Ernährung.

Was kann die Evolutionsbiologie von der Soziologie lernen?

Gadau: Die Biologie macht keine moralische Wertung. Sie kann aber umgekehrt auch nicht als Begründung dafür herhalten, was falsch oder richtig ist. Es gibt keinen Determinismus. Biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen lassen nicht den Schluss zu, dass Männer zwangsläufig mehr Geld verdienen müssen. Die Diversität des Sozialverhaltens und der Sozialstrukturen beim Menschen ist faszinierend. Um diese erklären zu können, greifen wir auf den langjährigen Erfahrungsschatz der Sozialwissenschaften zurück.

Das klingt so, als würden sich die beiden Disziplinen annähern. Ist dies eine neuere Entwicklung?

Renn: In der Tat galt Naturalismus lange als Kampfbegriff in denjenigen Sozialwissenschaften, die sich gegen eine Allianz aus Funktionalismus und ‚Sozialdarwinismus‘ aufstellten. Nach einer gewissen Dominanz des Konstruktivismus entwickelt sich in jüngerer Zeit die Aufmerksamkeit dafür, dass wir die Natur, das Materielle, nicht vergessen dürfen. Hier treffen sich dann Soziologie und Soziobiologie. Der Mensch ist nicht festgelegt durch die Natur, aber auch nicht unabhängig von ihr. Die Evolutionstheorie entwickelt in dem Zusammenhang eine neue Ausstrahlungskraft.

Gadau: Ich denke, unsere Disziplinen treffen sich in der Beobachtung, dass Evolution häufig zu Kooperation und einer bestimmten Form des wechselseitigen Altruismus führt, von dem die Gemeinschaft profitiert, etwa beim Generationenvertrag des Rentensystems.

Renn: Ja, da stimme ich zu. Eine hinreichende Theorie soziokultureller Evolution steht noch aus. Sie müsste die Evolution evolutionstranszendenter Formen der Reproduktion berücksichtigen: Also den Umstand, dass sich zum Beispiel Kulturen von der Evolution lösen und sich geschichtlich, teils planvoll, verändern. Hier haben Biologie und Soziologie eine gemeinsame Agenda. Schließlich kommen unsere Disziplinen mit Blick auf die individuelle Entwicklung neuer Eigenschaften zusammen.

Wie kann ich mir diese Herausbildung neuer Eigenschaften konkret vorstellen?

Gadau: Meine Geschichte und Erfahrungen beeinflussen meine Entscheidungen – nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Ameisen. Inzwischen wissen wir, dass Tiere längst nicht rein instinktgesteuert sind. Auch für Tiere ist Lernen eine adaptive Strategie, um der Unvorhersehbarkeit der Umwelt zu begegnen. Aufgrund seiner genetischen Variation und individuellen Erfahrung macht nicht jedes Individuum das Gleiche. Der Mensch hat natürlich eine breitere Wahlmöglichkeit. In sehr vielen Fällen lässt sich menschliches Verhalten aber mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen, wenn man die Biologie, Erfahrung und Umwelt kennt.

Kann man aus Sicht der Evolutionstheorie überhaupt von einer Einzigartigkeit des Menschen sprechen?

Renn: Ja, aber mit der Eigenständigkeit oder Einzigartigkeit des Menschen ist keine höhere Wertigkeit der Gattung verbunden. Es gibt auch evolutionäre Errungenschaften, die wir nur bei Menschen sehen: Geld ist ein gutes Beispiel. So etwas gibt es bei Tieren nicht, vor allem, wenn wir uns die Abkopplung des Geldes von materiellen Vorstellungen ansehen, so etwa mit dem Soziologen und Philosophen Georg Simmel die Vermehrung des Geldes um des Geldes wegen.

Gadau: Als Biologe sehe ich Geld als Beispiel für eine umfassende Kooperation. Geld ist eine Form der Ressource, und es ergibt einen evolutionären Sinn, dass ein Individuum seine Ressourcen optimieren will.

Renn: Ja, aber letztlich ist Geld ein abstraktes Kommunikationsmedium, das unabhängig von der Optimierungsstrategie einzelner Marktteilnehmer funktioniert. Das hängt auch mit der Populationsgröße zusammen. Ich muss mein Gegenüber nicht mehr persönlich kennen, um mit ihm ein Geschäft abzuschließen.

Das war ein aufschlussreicher interdisziplinärer Austausch.

Renn: Allerdings. Es bestehen weiterhin Berührungsängste und Vorurteile zwischen den Disziplinen, die wir abbauen müssen. Aber es gibt auch wachsende Überschneidungen der jeweiligen Problemstellungen, hier ist noch viel zu tun.

Gadau: Ja, teilweise gilt die Biologie noch als deterministisch, und der Soziologie wird vorgeworfen, alles als konstruiert zu betrachten, losgelöst von der Natur. Wir müssen mehr miteinander sprechen, denn diese Vorstellungen oder Vorurteile sind längst überholt.

 

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