Eine folgenreiche Entdeckung
„Mir ist, als gestehe ich einen Mord“, schrieb Charles Darwin in seinem 1859 erschienenen Werk „Über die Entstehung der Arten“. Ihm war offenbar bewusst, dass er mit seinen damaligen neuen Erkenntnissen nicht nur irgendeine wissenschaftliche Theorie lieferte. Nein, der britische Naturforscher brachte das bisherige Weltbild ins Wanken. Denn Charles Darwin lieferte eine Erklärung für die allmähliche Entwicklung des Lebens, das sich fortlaufend an neue Umweltbedingungen anpasst – also nicht auf einen einmaligen göttlichen Schöpfungsakt zurückgeht. „Evolution, verstanden als graduelle Entwicklung, ist das verbreitetste wissenschaftliche Konzept zum Verständnis von Prozessen, von der Entstehung der Erde bis zu menschlichen Gesellschaften. Damit ist sie eine der folgenreichsten Entdeckungen“, erklärt Prof. Dr. Joachim Kurtz von der Münster Graduate School of Evolution. Evolution sei eine auf empirischen Messungen und Beobachtungen beruhende wissenschaftliche Tatsache, die durch die Evolutionstheorie erklärt wird.
Das musste schließlich auch die katholische Kirche einsehen. Aber es dauerte. Genau 137 Jahre. Erst 1996 erklärte Papst Johannes Paul II., dass die Evolutionstheorie „mehr als eine Hypothese“ sei. Trotzdem forderte US-Präsident George W. Bush 2005 den gleichberechtigten Unterricht von „Intelligent Design“ neben der Evolutionstheorie – die evangelikal geprägte These geht von der Entstehung des Lebens durch eine schöpferische Intelligenz aus. Ein Grund mehr, dass der Darwin-Tag, der seit 1995 jährlich zu Darwins Geburtstag am 12. Februar 1809 begangen wird, auch ein Zeichen gegen Wissenschaftsskepsis setzt.
„Die graduellen Entwicklungen sind das Resultat von Selektion, die aus den vorhandenen erblichen Variationen die am besten angepasste auswählt. Dadurch verändern sich allmählich die vererbbaren Merkmale einer Population oder anderer organischer Strukturen“, erläutert Prof. Dr. Jürgen Gadau vom Institut für Evolution und Biodiversität. Laut Duden kann sich die schrittweise Fortentwicklung auch auf die „Evolution der Gesellschaftsformen“ beziehen, und bei der kulturellen Evolution des Menschen handelt es sich um die Weitergabe erlernter Verhaltensweisen an die nächste Generation.
Viele verbinden Evolution mit dem Schlagwort „Survival of the fittest“. Darwin beschrieb damit seine Idee der natürlichen Auslese, nach der die am besten an die Umwelt angepassten Individuen überleben – nicht die stärksten. Erfolgreiche Anpassung kann auch in Arbeitsteilung bestehen, innerhalb von Bienen- und Ameisenstaaten wie in menschlichen Gemeinschaften. Sozialdarwinismus ist also nicht unbedingt das Mittel der Wahl. Kooperation gibt es auch zwischen unterschiedlichen Arten: So vereinen sich beispielsweise Pilze und Cyanobakterien zu Flechten und bilden einen neuen Organismus. Viele Pflanzenarten sind für ihre Fortpflanzung auf Insekten angewiesen, die sie mit nahrhaftem Nektar belohnen.
Eine weitere überraschende Erkenntnis: Krankheiten können ein Selektionsvorteil sein. Die Erbkrankheit Sichelzellenanämie schützt vor Malaria, in Regionen mit hoher Verbreitung hat etwa ein Drittel der Bevölkerung diese Erbeigenschaft. Doch damit nicht genug: „Paradoxerweise kann die Evolution Krankheiten nicht nur beseitigen, sondern auch verstärken, etwa durch sich rasch verändernde Krankheitserreger“, sagt Prof. Dr. Ulrich Dobrindt vom Graduiertenkolleg EvoPAD (Evolutionary Processes in Adaptation and Disease).
Zur Erforschung menschlicher Universalien kann das Modell der kulturellen Evolution beitragen. Ein interdisziplinäres US-amerikanisches Forschungsteam untersuchte vor einigen Jahren die Universalität von Musik. Weltweit singen und tanzen die Menschen, Tonalität und Rhythmus sind überall nachweisbar. Musik kommt meist im Zusammenhang von Kindererziehung, Religion, Heilung, Tanz und Liebe zum Einsatz.
Zwar verwendete Darwin den „Mord“ als Metapher, doch es steht fest: Massenaussterben in der Vergangenheit haben bislang jedes Mal neue Arten hervorgebracht – wie vor etwa 250 Millionen Jahren die Dinosaurier. Aktuell fordert die menschengemachte Klimakrise eine Anpassung an sich so rasant wie nie zuvor verändernde Umweltbedingungen und stellt die Evolution damit vor eine neue große Herausforderung.
Autorin: Anke Poppen
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 31. Januar 2024.