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Münster (upm/khk/ap).
Mangaaka waren Wesen, die im Loango-Gebiet im westlichen Afrika über die Einhaltung von Verträgen wachten. Ihre ursprüngliche rechtliche Funktion wurde verschleiert, indem sie in europäischen Sammlungen als reine Kunstwerke dargestellt wurden.<address>© Metropolitan Museum of Art, New York</address>
Mangaaka waren Wesen, die im Loango-Gebiet im westlichen Afrika über die Einhaltung von Verträgen wachten. Ihre ursprüngliche rechtliche Funktion wurde verschleiert, indem sie in europäischen Sammlungen als reine Kunstwerke dargestellt wurden.
© Metropolitan Museum of Art, New York

„Europa diskutiert mit sich selbst“

Wie ein Anthropologe und ein Jurist die koloniale Provenienzforschung beurteilen

Über die Rückgabe von Kulturgütern mit kolonialer Provenienz wird seit langem öffentlich debattiert. Um Objekte wie das Luf-Boot oder die Benin-Bronzen und ihren Verbleib in europäischen Sammlungen hat sich teilweise heftiger Streit entzündet. An den Universitäten Münster und Wien erforscht das Projekt „Forensics of Provenance. Colonial Translocations through the Lenses of Legal Pluralism“ neue Ansätze zum Umgang mit materiellen Zeugnissen von Kultur. Der historische Anthropologe Dr. João Figueiredo, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“, und der Rechtshistoriker Dr. Sebastian M. Spitra, ehemaliger Fellow, sprechen mit Lennart Pieper über die Chance, einen Beitrag zum besseren Verständnis der Ursprungsgesellschaften und ihrer pluralen Rechtssysteme zu leisten.

 

Die öffentliche Debatte konzentriert sich heute stark auf bestimmte Objekte und die Frage: zurückgeben, ja oder nein? Häufig wird dabei versucht zu beurteilen, ob die Aneignung nach damaligem Recht legal oder illegal war. Ist das eine angemessene Herangehensweise?

João Figueiredo: Wenn Sie die Frage so stellen, setzen Sie bereits Einiges voraus. Wir möchten die stillschweigenden Vorannahmen der öffentlichen Debatte aufdecken. Handelt es sich zum Beispiel wirklich um Objekte? Nicht alle Gesellschaften und Kulturen sind sich einig, wo die Grenzen zwischen Subjekten und Objekten oder zwischen Natur und Kultur liegen. Was wir in der westlichen Welt als Artefakte, Tiere oder Landschaften ohne eigene Handlungsmacht und Persönlichkeit betrachten, wird von Kulturen, die auf anderen Daseinsvorstellungen oder Weltanschauungen beruhen, oft ganz anders eingestuft.

Sebastian M. Spitra: Ähnlich ist es bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit von Wegnahmen: Warum gehen wir, wenn wir vom damaligen Recht sprechen, ausschließlich vom europäischen Recht aus? Der koloniale Raum war vielfach ‚durchrechtet‘, und zwar nicht nur durch die Kolonisatoren, sondern natürlich in erster Linie seitens der indigenen Bevölkerung. Diesen Rechtspluralismus nehmen wir in den Fokus. Damit setzen wir auch der Vorstellung etwas entgegen, dass die Kolonien vor Ankunft der Europäerinnen und Europäer rechtliches Niemandsland gewesen wären.

Der historische Anthropologe und Afrikanist Dr. João Figueiredo ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“ an der Universität Münster. Im Mittelpunkt seiner Forschungen steht der portugiesische Kolonialismus in Angola während des langen 19. Jahrhunderts.<address>© khk evir</address>
Der historische Anthropologe und Afrikanist Dr. João Figueiredo ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“ an der Universität Münster. Im Mittelpunkt seiner Forschungen steht der portugiesische Kolonialismus in Angola während des langen 19. Jahrhunderts.
© khk evir

 

Wie können wir heute die damaligen Rechtsvorstellungen rekonstruieren?

Spitra: Wenn es um europäische Rechtsvorstellungen geht, blickt man zunächst in die damals geltenden Völkerrechtsverträge und schaut, was erlaubt und was verboten war. So einfach ist es aber nicht. Sind kolonialisierte Völker Subjekte und damit Träger von Rechten und Pflichten im Völkerrecht oder nicht? Handelt es sich überhaupt um völkerrechtliche Sachverhalte, wenn etwas im kolonialen Raum geschieht, oder sind das innerstaatliche Maßnahmen? Vertraglich war nur wenig geregelt, also greift man häufig auf die Völkerrechtswissenschaft der damaligen Zeit als Quelle zurück. Aber wissenschaftliche Debatten sind oft widersprüchlich und nicht selten politisch aufgeladen ...

Figueiredo: Und bei den Rechtsvorstellungen kolonialisierter Völker ist die Sache natürlich oft noch schwieriger. Manchmal sind die Herkunftsgemeinschaften verstreut oder sie haben das Wissen über ihre früheren Rechtspraktiken verloren. In anderen Fällen stammen die einzigen verfügbaren Berichte von europäischen Kolonialbeamten oder muslimischen Reisenden, die wegen ihrer verzerrenden Beobachterperspektive als Quellen problematisch sind. Die Arbeit in Archiven und mit Herkunftsgemeinschaften scheint mir daher die beste Herangehensweise.

 

Sie argumentieren, dass das Entfernen kultureller Objekte auch indigene rechtliche Infrastruktur zerstört habe.

Figueiredo: Alle Rechtssysteme haben eine materielle Basis, auch die europäischen. Denken Sie an Gerichtsgebäude, Akten, juristische Literatur. Wenn man diese Infrastruktur entfernt oder gar vernichtet, zerstört man auch die Rechtsordnung. Und nicht alle materiellen Elemente des Rechtssystems sind textlicher Natur, zum Beispiel Grenzmarkierungen, Längen- und Zeitmaße. Einige der Objekte, an deren Verlagerung die Europäer am meisten interessiert waren, waren gerade jene, die ihren Eigentumsregelungen oder kolonialen Interessen zuwiderliefen.

Spitra: Dazu gehört auch, die rechtliche Relevanz dieser juristischen Infrastruktur in ihrer Bedeutung herunterzuspielen und sie etwa als religiöse Praktiken, Fetisch oder Aberglaube abzutun. Als Rechtshistoriker war ich verblüfft, dass Anthropologen diese rechtliche Dimension in der Restitutionsdebatte bisher kaum berücksichtigt haben.

Figueiredo: Das rührt meiner Meinung nach daher, dass die meisten dieser materiellen Elemente bereits aus ihrem rechtlichen Kontext herausgelöst und als Kunstwerke oder ethnografische Objekte in westlichen Museen katalogisiert waren, als Anthropologen begannen, sich für die Untersuchung des Rechtspluralismus zu interessieren. Diese Wegnahme bestimmt immer noch die Bedingungen der Debatte.

Der Jurist und Rechtshistoriker Dr. Sebastian M. Spitra, BA, LL.M., im Jahr 2021 Fellow am Käte Hamburger Kolleg, forscht am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien zur Völkerrechtsgeschichte, zum Kulturgüterschutzrecht und zum Verhältnis von Kolonialismus und Recht. Für seine Monographie „Die Verwaltung von Kultur im Völkerrecht. Eine postkoloniale Geschichte“ erhielt er den Preis des Rechtshistorikertags 2022.<address>© Miloš Vec</address>
Der Jurist und Rechtshistoriker Dr. Sebastian M. Spitra, BA, LL.M., im Jahr 2021 Fellow am Käte Hamburger Kolleg, forscht am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien zur Völkerrechtsgeschichte, zum Kulturgüterschutzrecht und zum Verhältnis von Kolonialismus und Recht. Für seine Monographie „Die Verwaltung von Kultur im Völkerrecht. Eine postkoloniale Geschichte“ erhielt er den Preis des Rechtshistorikertags 2022.
© Miloš Vec

 

Anfang Februar organisieren Sie zu diesem Thema eine internationale Tagung, auch mit Teilnehmern aus Asien, Afrika, dem Pazifik und Amerika, also aus Siedlerkolonien oder ehemals kolonisierten Gebieten. Wurden deren Stimmen bislang zu selten gehört?

Spitra: Ich nehme die öffentliche Diskussion um Restitutionen als eine Europas mit sich selbst wahr. Hier geht es mehr um die Selbstversicherung eigener moralischer Identität als um aufrichtiges Interesse an der Aufarbeitung der gewaltbeladenen Vergangenheit und ihren Spuren bis in die Gegenwart.

Figueiredo: Diese Art von Selbstbezogenheit ist auch in wissenschaftlicher Hinsicht unfruchtbar. Indem wir die Bedingungen für die Debatte festlegen, schließen wir nicht nur Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit anderen Hintergründen und politischen Prioritäten aus, sondern weigern uns auch, ihre Antworten in unsere Methoden einfließen zu lassen. Unser Workshop schafft die Voraussetzungen dafür, dass diese Stimmen stärkeren Einfluss nehmen können – auf die Wissenschaft, aber auch auf künftige internationale Politik.

 

Das Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“:

Das Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“ (EViR) an der Universität Münster wird seit 2021 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Fellows aus aller Welt untersuchen hier gemeinsam mit münsterschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das dynamische Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Vielfalt im Recht von der Antike bis zur Gegenwart. Damit wird erstmals eine systematische Untersuchung des Phänomens in seiner gesamten historischen Tiefe und über Fächergrenzen hinweg angestrebt.

 

Internationaler Workshop:

8./9. Februar: „The Forensics of Provenance: Colonial Translocations through the Lenses of Legal Pluralism“, Käte Hamburger Kolleg, Servatiiplatz 9 (Iduna-Hochhaus), 48143 Münster. Anmeldungen sind online möglich.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 31. Januar 2024.

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