Mit zehn Jahren an der Uni
Mit einem breiten Lächeln betritt Friedrich Wendt das Büro im Institut für Mathematische Stochastik. Der Junge zieht seine Jacke aus und geht zur Tafel, an der er sofort in die Welt der Mathematik eintaucht. Innerhalb kürzester Zeit schreibt er für einen Laien zusammenhangslos erscheinende Zahlen auf: Fünf, Sechzehn, Acht. Es folgt eine Endlosschleife aus Vieren, Zweien und Einsen – fertig ist die erste Zahlenreihe. Er fügt neun weitere Reihen hinzu, die ebenso unübersichtlich und kompliziert wirken. Als Überschrift schreibt er „Collatz-Problem“ darüber – laut Wikipedia handelt es sich dabei um ein ungelöstes mathematisches Phänomen, das Experten auch als „(3n+1)-Vermutung“ bezeichnen. Als er fertig ist, legt er den Stift ab, tritt einen Schritt zurück und betrachtet die vielen Ziffern. Von seinem jungen Alter abgesehen, sieht alles so aus, als würde ein passionierter Mathe-Professor seinen Arbeitstag beginnen. Tatsächlich ist Friedrich Wendt der jüngste Student der Universität Münster aller Zeiten. Er ist zehn Jahre alt.
In diesem Wintersemester startete Friedrich sein Studium. Zweimal die Woche nimmt er im Fach Mathematik an der Erstsemestervorlesung „Analysis I“ teil und führt mit seinen Kommilitonen, die mindestens doppelt so alt sind, die Übungen zur Vorlesung durch. „Ein oder zwei Mal haben mich die anderen Studierenden nach meinem Alter gefragt. Ansonsten behandeln sie mich normal“, erzählt Friedrich, der bis 2020 im US-Bundesstaat Virginia gelebt hat und erst seit zwei Jahren Deutsch spricht. „Ich habe in der letzten Übung zum ersten Mal die volle Punktzahl erreicht“, berichtet er stolz.
Neben der Uni geht Friedrich aufs Gymnasium Schloss Buldern in Dülmen, wo er in Mathe und Englisch in diesem Jahr sein Abitur machen wird. In den anderen Fächern besucht er die siebte Klasse. „Sein komplettes Abitur wird er mit 13 oder 14 Jahren machen“, erklärt Friedrichs Vater Wilfried Wendt. „Wann genau er die Schule abschließt, ist nicht so wichtig.“ Einen Studienplatz hat er schließlich schon – Prüfungs- und Studienleistungen kann er sich normal anrechnen lassen.
Früh haben Friedrichs Eltern erkannt, dass er für sein Alter kognitiv weit voraus ist. „Als er ein Jahr alt war, haben wir uns über Hochbegabung noch keine Gedanken gemacht. Mit eineinhalb hat er angefangen, zu lesen und zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir, dass bei Friedrich irgendetwas anders läuft“, erzählt Wilfried Wendt. Bereits mit drei Jahren konnte er die analoge Uhr lesen. Ein IQ-Test hat bei Friedrich 180 ergeben, wobei Ergebnisse in diesem Bereich als ungenau gelten. „Er bewegt sich wahrscheinlich zwischen 160 und 200“, vermutet sein Vater. Friedrichs Bruder Richard ist ebenfalls hochbegabt. Bei ihm wurde ein IQ von 155 gemessen. Bei den meisten Menschen liegt er zwischen 90 und 110.
Um ihn ergänzend zu den Vorlesungen und Übungen zu fördern, trifft sich Prof. Dr. Matthias Löwe vom Institut für Mathematische Stochastik jeden Mittwoch mit dem jungen Mathe-Talent. Gemeinsam diskutieren sie in Matthias Löwes Büro mathematische Probleme und Herausforderungen, suchen beispielsweise Regeln für durch elf teilbare Zahlen und ermitteln die Nachkommastellen der Zahl Pi. Andere Kinder fangen in dem Alter erstmals damit an, mit Brüchen zu rechnen. Für den Professor stellen die Treffen mit Friedrich eine willkommene Abwechslung dar. „Friedrich beeindruckt mich Woche um Woche. Ich kann mit ihm genauso über Mathematik fachsimpeln wie mit anderen Studierenden“, staunt der Wissenschaftler.
Mit vier Jahren entwickelte Friedrich seine Begeisterung für die Mathematik. Damals habe er mit leicht verständlichen Videos angefangen, Mathe zu lernen, erzählt sein Vater. Mittlerweile – sechs Jahre später – hantiert er mit Zahlen und Formeln auf Uni-Niveau. „Er kann besonders gut Zahlenmuster erkennen“, berichtet Matthias Löwe. Seine Euphorie über die Mathematik teilt Friedrich nicht nur mit seinen Kommilitonen und Dozenten, sondern auch mit seinen knapp 1.000 Followern auf Instagram. Neben den mathematischen Fähigkeiten sticht sein fotografisches Gedächtnis heraus. Mit einem beachtlichen Tempo lernt er Hauptstädte, Filmdialoge und alle 32 Zeilen von Goethes „Erlkönig“ auswendig. Das Gedicht finde er jedoch langweilig, sagt Friedrich, der alte Sprachstil gefalle ihm nicht.
Wenn der „Schülerstudent“ nachmittags nach Hause kommt, setzt er sich am liebsten ans Schachbrett. Vor rund eineinhalb Jahren entdeckte er seine Leidenschaft für Türme, Springer und Bauern. Nach drei Monaten hatte seine Familie gegen ihn keine Chance mehr, seitdem tobt er sich aus Mangel an ähnlich starken Gegnern auf Online-Plattformen aus. Für die Zukunft hat Friedrich bereits konkrete Pläne. Er wolle Wissenschaftler werden und „ein Mittel finden, mit dem Menschen länger leben“. Das könne aufwendig werden, relativiert er sein Vorhaben, weiß aber schon sicher: „Wenn ich ein Mittel gefunden habe, schenke ich es meiner Familie.“
Autor: Linus Peikenkamp
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 31. Januar 2024.