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Münster (upm).
Für ein halbes Jahr ist Humboldt-Preisträgerin Prof. Dr. Tian Xiaofei nicht auf dem Campus der Harvard-Universität anzutreffen, sondern in ihrem Büro an der Schlaunstraße.<address>© Uni MS - Brigitte Heeke</address>
Für ein halbes Jahr ist Humboldt-Preisträgerin Prof. Dr. Tian Xiaofei nicht auf dem Campus der Harvard-Universität anzutreffen, sondern in ihrem Büro an der Schlaunstraße.
© Uni MS - Brigitte Heeke

Schätze vom Staub der Jahrhunderte befreien

Humboldt-Forschungspreisträgerin Tian Xiaofei zu Gast am Institut für Sinologie und Ostasienkunde

Während heutzutage in Europa Gedichte meist als romantischer Ausdruck tiefer Gefühle gelten, gab es im Mittelalter vielerorts eine pragmatischere Art, Verse zu schmieden. „Im vormodernen China waren sie ein selbstverständlicher Teil des sozialen Lebens“, erläutert Prof. Dr. Tian Xiaofei. „Man antwortete damit beispielsweise Freunden auf ihre Nachrichten oder bedankte sich mit kunstvollen Versen für ein Geschenk.“ Die Literaturwissenschaftlerin von der US-amerikanischen Harvard-Universität in Cambridge forscht derzeit am Institut für Sinologie und Ostasienkunde über Traumaverarbeitung in der Literatur.

Im Mittelpunkt des aktuellen Buchprojekts von Tian Xiaofei, die zu Gast bei Institutsleiterin Prof. Dr. Kerstin Storm und ihrem Vorgänger Prof. Dr. Reinhard Emmerich ist, steht die chinesische Hofliteratur und ihre Transformation, vor allem Lyrik aus dem 5. und 6. Jahrhundert. Auf den ersten Blick erschienen viele der Gedichte etwa von Yu Xin (513–581) „harmlos und gefällig“. Seine Werke wurden nicht nur in seinem Heimatstaat im Süden Chinas bewundert, sondern auch im Norden, wo er als Gesandter im feindlichen Staat gewaltsam festgehalten wurde und den Rest seines Lebens verbrachte. „Die jungen Prinzen des Nordstaats haben seinem Schreibstil nachgeeifert, hatten aber keine Ahnung, worum es in den Texten wirklich ging“, ist Tian Xiaofei überzeugt. Wirklich verstanden hätten ihn nur diejenigen, die mit dem Dichter zusammen im Exil waren. Sie seien, anders als die neuen Herrscher im Norden, mit einer ähnlichen literarischen Tradition aufgewachsen wie er. Ohne diesen historischen Kontext könne man die Texte in ihrer Tiefe auch aus heutiger Sicht nicht nachvollziehen. „Yu Xin durfte nicht in seine Heimat zurückkehren, weil er dem Hofe als hervorragender Dichter nützlich erschien“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin. Diese Gefangenschaft habe seine Art zu schreiben verändert. Bei genauerem Hinschauen trete eine schmerzliche Ironie zutage, eine abgründige Sprache „mit Ecken und Kanten“.

„Eigentlich arbeite ich wie eine Archäologin“, findet Tian Xiaofei. „Wir graben nach Schätzen und befreien Dinge vom Staub der Jahrhunderte.“ Viele ihrer Quellen seien im Laufe der über 1.400 Jahre verloren gegangen, etwa durch Kriege oder den Einfluss von Feuer und Wasser. Daher erschließt sie sich die Inhalte aus Fragmenten, zeitgenössischen Lexika oder der Geschichtsschreibung. „Zum Glück gab es eine Liste aller Bücher der kaiserlichen Bibliothek aus dem frühen 7. Jahrhundert.“ Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich auch mit Themen wie der chinesischen Kulturrevolution der 1960er- und 1970er-Jahre. Zusätzlich zu ihren zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen verfasst sie eigene Gedichte und Essays. Die 52-Jährige reist gerne und schreibt darüber. Sie übersetzte Gedichte aus dem maurischen Spanien ins Chinesische.

Tian Xiaofei verbrachte ihre frühe Kindheit in der Stadt Harbin, nahe der russischen Grenze. Nach dem Umzug ihrer Familie in die Nähe von Beijing machte sie an der dortigen Universität einen Bachelor in englischer Literatur. Für den Masterabschluss wechselte sie in die USA und hielt dort Ausschau nach einer Gegend, in der es im Winter kalt ist. „Ich hatte viele schöne Erinnerungen an die schneereichen Winter in Harbin“, erzählt die Forscherin. Ihre Wahl fiel auf die University of Nebraska-Lincoln. Auch in Boston, wo sie in vergleichender Literaturwissenschaft promoviert hat und seit 2006 als Professorin für chinesische Literatur lehrt, freut sich Tian Xiaofei immer über die weißen Winter.

Noch bis zum Juli forscht die Humboldt-Forschungspreisträgerin am Institut für Sinologie und Ostasienkunde in Münster. Es ist eins der wenigen in Deutschland mit einem Schwerpunkt auf der Literatur der mittleren Kaiserzeit (etwa 3. bis 10. Jahrhundert) und verfügt daher über eine außergewöhnlich gut ausgestattete Bibliothek in diesem Bereich. Ende November stieg die Harvard-Professorin wieder ins Flugzeug, um mit ihrem zwölfjährigen Sohn und ihrem Mann in den USA Thanksgiving zu feiern. Die beiden begleiten sie im Dezember zurück und lassen sich von ihr die Stadt und die Universität Münster zeigen. Wer weiß, vielleicht schneit es bis dahin hier sogar auch ein bisschen ...

Autorin: Brigitte Heeke

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 13. Dezember 2023.

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