Konfliktfrei turnen
Turnen ist ein eleganter Sport, vorgetragen mit einer Mischung aus großer Kraft, höchster Konzentration und anspruchsvoller Koordination. Doch dieser faszinierende Sport hat in den vergangenen Jahren immer wieder seine Schattenseiten gezeigt – Skandale rund um sexuellen und geistigen Missbrauch in den USA, Großbritannien, den Niederlanden und in Deutschland. Der Deutsche Turner-Bund (DTB) schreibt sich den Schutz vor Gewalt auf die Fahnen: „Das klare Ziel vo[m] DTB [...] ist die Schaffung einer Kultur des Hinsehens und des Handels in der gesamten Turnfamilie. [...] Der DTB sieht sich dem Schutz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in besonderem Maße verpflichtet.“
Wie Turnen konfliktfrei ablaufen kann, hat Dr. Kathrin Kohake vom Arbeitsbereich Bildung und Unterricht im Sport der Universität Münster untersucht. Gefördert vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft, hat sie das Forschungsprojekt „Entwicklung und Implementation von Verhaltensregeln als Kernbaustein von Präventions- und Förderkonzepten: Gewaltprävention und Förderung pädagogischer Trainingsqualität im Deutschen Turner-Bund“ geleitet, das Ende des Jahres abgeschlossen wird. Ziel war es, Verhaltensregeln für Trainerinnen und Trainer, Athleten, Eltern und Funktionäre zu entwickeln, die die bisherigen allgemein-abstrakten Formulierungen im Trainer-Ehrenkodex praxisnah konkretisieren und ergänzen. „Die Verhaltensregeln sollen klären, welches Verhalten den Werten des Verbandes entspricht und welches ihnen widerspricht, welche Standards die Beteiligten im Sport voneinander erwarten können und welches Verhalten für die individuelle und leitungsbezogene Entwicklung der Sportlerinnen und Sportler besonders förderlich ist“, erklärt Kathrin Kohake. Dies geschah nicht fernab der Sportstätten und der Turner, sondern im engen Austausch mit vier Akteursgruppen: Sportlern, Trainern, Eltern und Funktionären aus dem Deutschen Turner-Bund und dem Hessischen Turnverband (HTV). Zu den DTB-Gesprächspartnern gehörten auch die Bundestrainer, Cheftrainer und Bundesnachwuchstrainer der Bereiche Gerätturnen männlich und weiblich, rhythmische Sportgymnastik und Trampolin. „Durch den Austausch mit den unterschiedlichen Akteuren konnten viele Bedenken und Wünsche im Regelkatalog berücksichtigt werden. Dies trägt wesentlich dazu bei, dass die neuen Verhaltensregeln in Zukunft mit Leben gefüllt werden können.“
Durch den partizipativen Ansatz gelang es Kathrin Kohake und ihren Kollegen des Instituts für Sportwissenschaft, einen Regelkatalog zu erarbeiten, etwa zu den Themen Gewalt und Mobbing, Wertschätzung und Respekt, Mitbestimmung und Konfliktbearbeitung. Dabei enthält das sechsseitige Schriftstück Rechte und Pflichten aller genannten Akteursgruppen und schildert, wie ein gewaltfreies Miteinander im Turnen aussehen kann – unter Berücksichtigung der vorhandenen Machtgefälle und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Sportler und Trainer beziehungsweise Funktionären. So heißt es etwa: „Alle Trainer und Trainerinnen als verantwortliche Leitungspersonen im Sport haben die Pflicht, die Sportler und Sportlerinnen nicht feindselig, herabsetzend oder mit Spott zu behandeln und strafendes oder drohendes Anschreien zu vermeiden. Sportler dürfen nicht durch Bloßstellung vor der Gruppe beschämt oder gedemütigt werden.“ Zusätzliche Erläuterungen einzelner Regeln klären die rechtlichen und wissenschaftlichen Hintergründe sowie mögliche Grenzfälle.
Als nächstes möchte das Team der Universität Münster ein Format anbieten, in dem die vier Gruppen sich austauschen. Außerdem möchte Kathrin Kohake die Implementierung der Regeln in die Vereinssatzungen und den Turneralltag begleiten. „Der Prozess ist mit Ende unseres Forschungsprojekts nicht abgeschlossen. Ihren Zweck können die Verhaltensregeln nur erfüllen, wenn sie in der täglichen Praxis vermittelt, beachtet und auch kritisch weiterentwickelt werden. Ich bin überzeugt, dass wir hierfür einen guten Start geschaffen haben.“
Autor: André Bednarz
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 8. November 2023.