
„Die Bevölkerung ist verstört und in Panik“
Seitdem die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas Israel am vergangenen Wochenende attackiert hat, herrscht in dem Land Notstand. Wie die Stimmung in der Bevölkerung ist und was der islamistische Terror für den Alltag bedeutet, schildert Dr. Katrin Kogman-Appel, Professorin am Institut für Jüdische Studien der Universität Münster im Interview mit André Bednarz. Sie hält sich derzeit in der Nähe von Jerusalem auf.
In Jerusalem leben Israelis und Palästinenser in unmittelbarer Nähe zueinander. Wie wirkt sich das auf die aktuelle Lage aus?
Ich lebe nicht direkt in Jerusalem, sondern in einem circa 20 Kilometer südwestlich gelegenen Ort und kann das im Moment nicht beurteilen, da man das Haus derzeit nur in besonderen Fällen verlässt. In die Stadt fährt man nur, wenn man muss. Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern ergeben sich nur, wenn Normalität herrscht, etwa in Geschäften oder am Arbeitsplatz. Da die Lage derzeit nicht normal ist, gibt es auch nur wenig Begegnungen. Zudem liegen bei der jüdischen Bevölkerung im Moment die Nerven blank, und der Argwohn ist groß. Nach den Berichten von dem, was sich am Samstag in den Kibbutzim und Orten rund um den Gazastreifen abgespielt hat, lassen Geräusche an der Tür, das Klopfen eines Hammers oder ähnliches im Kopf sofort rote Lampen aufleuchten. Die Frage ist allerdings, wie sich das Zusammenleben der beiden Gruppen nach diesem Krieg gestalten wird.
Wie ist allgemein die Stimmung in der Bevölkerung?
Ich kann nur für die jüdische Bevölkerung sprechen, die aktuell verstört und in Panik ist. Es herrscht Katastrophenstimmung, viele Menschen sind fassungslos. Davon abgesehen, spaltet sich die jüdische Bevölkerung in zwei Gruppen: in die der Regierungskritiker, die maßlos darüber verstört sind, dass die Regierung und die Armee nicht funktioniert haben. Aus der Armee gibt es mittlerweile Stimmen höherer Offiziere, die Verantwortung übernehmen. Unter Politikern ist das nicht der Fall. Und es gibt zweitens jene Gruppen, die die Regierung unterstützen und die die Regierungskritiker zu Sündenböcken machen. All das ist naturgemäß eine Folge der Ereignisse und Demonstrationen rund um die sogenannte Justizreform, die das Land seit Monaten in einen Tumult gestürzt hat. Einer aktuellen Umfrage zufolge sind allerdings im Moment nur elf Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass die jetzige Regierung im Amt bleiben sollte, wie sie ist.
Hinzu kommen die täglichen Meldungen über die stetig steigende Zahl der Toten ...

Können Sie mit Blick auf die angespannte Lage derzeit überhaupt Ihrer Arbeit nachgehen?
Mal so, mal so. Am vergangenen Samstag wurden wir von Sirenen geweckt. Zuerst dachten wir, es sei Fehlalarm, doch kurz darauf waren bereits Einschläge zu hören, also haben wir uns in einen Schutzraum begeben. Raketenangriffe gab es in den letzten Jahren immer wieder. Dort, wo wir wohnen, verirren sich normalerweise allerdings nur wenige Raketen – der erste Alarm allein machte uns also nicht nervös. Als die Sirenen allerdings so häufig ertönten, dass wir schließlich den ganzen Vormittag im Schutzraum verbrachten – glücklicherweise haben wir unseren eigenen Schutzraum –, waren wir alarmiert. Zwischendurch habe ich mich aber wie an anderen Tagen auch an meinen Schreibtisch gesetzt. Als allerdings auf dem Handy nach und nach die ersten Nachrichten über die eindringenden Terroristen hereinkamen, war es zu Ende mit der Konzentration. Und die Nachrichten wurden im Lauf des Sonntags und Montags immer schlimmer. Auf meinem Handy erscheinen alle paar Minuten Updates einer der hiesigen Tageszeitungen, die man natürlich sofort liest. Der Konzentrationspegel ist dementsprechend niedrig. Allerdings lenkt die Arbeit auch ab, und das ist ein wichtiger Punkt: Die Zeit vergeht schneller, und man ist gezwungen, auch an etwas anderes zu denken. Aber von normaler Arbeit kann man nicht sprechen. Zunächst versuche, akute Fristen im Blick zu behalten, mit Kreativität ist es derzeit schwieriger.