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Social-Media-Einträge gelten in der Literaturwissenschaft als moderne Tagebuchformen.<address>© Austin Distel - unsplash.com</address>
Social-Media-Einträge gelten in der Literaturwissenschaft als moderne Tagebuchformen.
© Austin Distel - unsplash.com

„Aus dem ‚Freund‘ wird ein Auftritt auf einer Bühne“

Germanistin Kerstin Wilhelms im Interview über Social-Media-Einträge als moderne Tagebuchform

Gelten Social-Media-Einträge für Sie als moderne Tagebücher?

Absolut! Spannend sind in dieser Hinsicht die Transformationen, die das ‚Tagebuch‘ infolge des Medienwechsels durchgemacht hat. Dazu gehört zuvorderst die Öffentlichkeit der Mitteilung, denn plötzlich wird aus dem ‚Freund‘, dem ‚geheimen Tagebuch‘, ein Auftritt auf einer Bühne, vor einem ganzen Publikum aus ,Freunden‘. Das Medium macht es möglich, mit diesem Netzwerk zu interagieren. Das heißt, es sind mehrere Autorinnen und Autoren an der Fertigung eines Textes beteiligt, zum Beispiel durch Kommentare und Erwiderungen auf einen Post. Zuletzt kommt noch das Wirken der Künstlichen Intelligenz hinzu. Dieser Algorithmus organisiert im Newsfeed die Einträge oder macht Vorschläge für neue ‚Freunde‘. Das heißt, in den sozialen Medien werden Tagebucheinträge öffentlicher, interaktiver und vielleicht auch ein wenig ‚fremdgesteuert‘. Es handelt sich aber definitiv um ein tagebuchähnliches Format. Im Kern geht es weiterhin um die Darstellung alltäglicher Erlebnisse, die der Account zu einem autobiografischen Dokument zusammenfasst.

Dr. Kerstin Wilhelms arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und beschäftigt sich unter anderem mit Autobiografieforschung.<address>© privat</address>
Dr. Kerstin Wilhelms arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und beschäftigt sich unter anderem mit Autobiografieforschung.
© privat
Entsteht dadurch eine neue Gattung, die mehr der Darstellung in der Öffentlichkeit dient als der inneren Auseinandersetzung?

Ich denke weniger normativ über Gattungen und ihre Grenzen nach, sondern frage mich, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen. Dass sich Social Media aus einer Tradition des Tagebuchschreibens – über Blogs als Bindeglied – entwickelt hat, ist in der Forschung Konsens. Auch, dass viele Menschen Social Media als eine Art Aufzeichnungsmedium für das eigene Leben nutzen. Die Transformation hat also vom handschriftlichen Tagebuch in Papierform hin zu Social-Media-Posts stattgefunden. Eine deutliche Veränderung ist zudem, dass es nun ein Publikum, eine Leserschaft gibt. Das werte ich aber nicht als kategorische Überschreitung der Gattung Tagebuch. Auch in früheren Zeiten wurden Tagebücher sehr wohl schon im Wissen um ihre spätere Veröffentlichung produziert.

Was hat sich durch soziale Medien in Hinblick auf das Tagebuch noch verändert?

Vielen klassischen Tagebüchern ist ein Gesprächscharakter eigen, so, als ob die Autoren ein Gegenüber imaginieren, zu dem sie sprechen. Die Anrede ‚Liebes Tagebuch‘ ist dafür charakteristisch. Oder denken Sie an Anne Frank, die ihr Tagebuch ‚Kitty‘ getauft hat. Neu ist heute nur, dass das Social-Media-Tagebuch ‚antwortet‘, zum Beispiel in Form von Kommentaren. Eine neue Gattung ist das aber deshalb nicht. Ich frage mich eher: Was macht das mit dem Lebensentwurf, wenn ich Feedback bekomme, wenn ich für ein Publikum schreibe und auswählen muss, was den Lesern und dieser Plattform gerecht wird. Viele Personen bedienen mehrere Accounts auf unterschiedlichen Plattformen, die jeweils wieder verschiedene Möglichkeiten bereithalten. Das ist sicher auch ein Unterschied zum klassischen Tagebuch. Die Selbstdarstellung als solche findet sich aber in beiden Formen, denn in jedem Tagebuch geht es darum, ein Selbstbild zu kreieren – für die Nachwelt oder zumindest für das spätere Ich.

Ist das klassische Tagebuch durch die sozialen Medien obsolet geworden?

Ich habe dazu keine aktuellen Daten. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass das Tagebuch in seiner klassischen Form nicht aufgehört hat zu existieren. Ich gehe eher davon aus, dass beide Formate für Tagebuchschreiber unterschiedliche Funktionen erfüllen.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 7. Juni 2023.

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