|
Thomas Mann in Berlin (1929) vor seiner Weiterreise nach Stockholm, wo er den Nobelpreis entgegennahm.<address>© Bundesarchiv, Bild 183-H28795, Wikimedia Commons</address>
Thomas Mann in Berlin (1929) vor seiner Weiterreise nach Stockholm, wo er den Nobelpreis entgegennahm.
© Bundesarchiv, Bild 183-H28795, Wikimedia Commons

Was hat der Pudel ihm nur getan?

Gastbeitrag: Thomas Mann nutzte seine Diarien als Selbstbildnis und zur Rekapitulation

Zu den witzigsten Schöpfungen der sozialen Medien gehörte der Twitter-Account @DailyMann. Über ein Jahr hinweg, zwischen April 2022 und April 2023, präsentierte er seinen Followern kurze Auszüge, meist nur einzelne Sätze, aus den Tagebüchern Thomas Manns. Und das mit verblüffendem Erfolg. Sätze wie der vom 10. August 1948 – „Große Abneigung, nachmittags noch irgendetwas zu tun“ – wurden hundertfach geteilt. Worin aber könnte der Reiz solcher nicht nur auf den ersten Blick belangloser Notate liegen? Er liegt wohl im Bruch zwischen dem öffentlichen Image des strengbürgerlichen Schriftstellers auf der einen und seinen allzu menschlichen Bedrängnissen auf der anderen Seite, vom Eheleben („Kein Thee morgens, da K. verschlafen hatte“) über das Wetter und die Gesundheit („Der selbe Wind, mehr Sonne. Diarrhoe“) bis zur Ernährung („Wiederabschaffung des Yogurt“). Und er liegt natürlich in der Komik, der aus dieser Brechung resultiert: „Zerwürfnis mit dem Pudel wegen seiner Unfolgsamkeit nach Auffindung abstoßender Dinge“.

Das Tagebuch ist für die mehr als 30.000 Twitter-Nutzer, die @DailyMann weiterhin folgen, obwohl es dort keine neuen Einträge mehr gibt, eine Quelle des authentischen Selbstausdrucks. Im Hintergrund steht eine historisch weit zurückreichende Gattungstradition, die aufs Engste gebunden ist an die Entwicklung der modernen Subjektivität. Einen Ausgangspunkt kann man in den Notaten des englischen Politikers Samuel Pepys aus dem 17. Jahrhundert sehen, die so hemmungslos intim sind, dass sie in einer Geheimschrift niedergeschrieben werden mussten. Wichtige Marksteine sind im darauffolgenden Jahrhundert die Tagebücher des Pietismus, die zur religiösen Seelenerkundung, mitunter auch zur schriftlichen Beichte genutzt wurden. Das Tagebuch der Moderne hingegen kann sowohl empfindsames Gefühlsjournal wie auch Medium der kritischen Selbstaufklärung sowie der historischen und politischen Zeitgenossenschaft sein. Wie sehr Thomas Mann selbst dieser langen Tradition verhaftet ist, zeigt sich in einem Kommentar aus dem Jahr 1934, wonach sein Tagebuchschreiben „der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindenden Überwachung“ dienen soll.

Prof. Dr. Kai Sina<address>© WWU - Nike Gais</address>
Prof. Dr. Kai Sina
© WWU - Nike Gais
Nun sollte bei Personen des öffentlichen Lebens eines allerdings nie unterschätzt werden – der Blick auf die Nachwelt. „Es kenne mich die Welt, aber erst, wenn alles tot ist“, schrieb Mann als 75-Jähriger in sein Tagebuch, es gäbe dann „heitere Entdeckungen“ zu machen. Der Satz ist vielschichtig, denn zum einen verweist er chiffriert auf das, was die Leser der Tagebücher ihnen einst würden entnehmen können; die Formulierung „Es kenne mich die Welt“ stammt von dem Dichter August von Platen, dessen großes biografisches Geheimnis ebenfalls seine Homosexualität war. Zum anderen und noch grundsätzlicher belegt der Satz aber auch, dass Thomas Mann ein Autor mit einem ausgeprägten Nachlassbewusstsein war: Dass „die Welt“ nach seinem Tod ein Interesse an seinen Tagebüchern haben würde – daran besteht für ihn offenkundig kein Zweifel. Seine Diaristik ist daher immer auch als Versuch zu verstehen, Einfluss auf die künftige posthume Wahrnehmung seines Lebens, Denkens und Schreibens zu nehmen.

Wie also Tagebücher wissenschaftlich lesen, zumal jene von Persönlichkeiten wie Thomas Mann? Es bietet sich eine gleichsam doppelte, in zweierlei Hinsicht aufmerksame Lektüre-Weise an, die einerseits den biografischen Aussagewert nicht unterschätzt (das wäre ignorant, schlimmstenfalls auch zynisch), ohne andererseits das Bestreben eines Diaristen, ein Bild seiner selbst zu vermitteln, von vornherein auszuklammern (das wäre naiv). So betrachtet, lieferten die Tagebücher Thomas Manns nicht, wie es @DailyMann nahelegt, das eigentliche, eben menschliche Bild seiner Persönlichkeit, während seine ausgestellte Bürgerlichkeit eine bloße Fassade wäre. Die beiden Seiten sind vielmehr zusammenzudenken. In seiner Autorschaft und seinem Gesamtwerk, dessen integraler Bestandteil die Tagebücher sind, gibt sich Thomas Mann als ein plurales, durch und durch modernes Individuum zu erkennen.

Autor Prof. Dr. Kai Sina hat am Germanistischen Institut der WWU die Lichtenberg-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik (mit dem Schwerpunkt Transatlantische Literaturgeschichte) inne. 2017 veröffentlichte er ein Buch über Susan Sontag und Thomas Mann.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 7. Juni 2023.

Links zu dieser Meldung