Vortrag und Themensemester über Wikinger
Der Wikinger, so wie wir ihn heute kennen, ist klischeehaft und ein Konstrukt aus der jüngeren Vergangenheit: martialisch, kämpferisch, mit Bart und Helm. „Das Hochmittelalter war eine Zeit der Antikenbegeisterung – und just in dieser Zeit begannen die Skandinavier mit ihrer eigenen Geschichtsschreibung“, erläutert Prof. Dr. Roland Ludger Scheel, Direktor des Instituts für Skandinavistik der Universität Münster. Dazu habe bald die Überzeugung gehört, dass ihre Vorfahren „zwar heidnisch, aber tapfer“ waren. Als im 19. Jahrhundert die Sprachgemeinschaften auf der Suche nach ihren nationalen Besonderheiten waren, lag der Rückgriff auf die vermeintlich unerschrockenen Eroberer nahe. Vor diesen Umdeutungen habe der Begriff „Wikinger“ lediglich „Pirat“ oder „Verbrecher“ bedeutet. Heute sind Wikinger allgegenwärtig, im Kino, in Serien, Dokumentationen, Computerspielen und natürlich in der Literatur.
Das aktuelle Themensemester am Institut für Skandinavistik befasst sich mit der dehnbaren Wikinger-Rezeption. Seminare, Vorträge und eine Exkursion auf den Spuren der Wikinger beleuchten die vielen, teils widersprüchlichen Facetten des modernen Mythos‘. Am 15. Juni (Donnerstag) spricht Prof. Dr. Verena Höfig von der LMU München zum Thema „Wikingersymbolik, Neo-Paganismus und die Neue Rechte“. Der Gastvortrag ist öffentlich und findet im großen Seminarraum (007) an der Robert-Koch-Straße 29 statt. Eine neuntägige Exkursion führt in der zweiten Junihälfte 16 Studierende des Instituts und aus benachbarten Fächern in das norddeutsche Wikingerdorf Haithabu und ins dänische Roskilde. Die Teilnehmer gehen der Frage nach, wie die Museen mit Publikumserwartungen an ein sogenanntes „hip heritage“ umgehen, also mit einem historischen Forschungsthema, das gerade im Trend ist. Neben der Theorie lernen die Teilnehmer auch die experimentelle Archäologie kennen und werden, sofern das Wetter es zulässt, auf dem Nachbau eines kleineren Wikingerschiffs segeln.
Der nationale Mythos war Roland Scheel zufolge bereits wirksam, als Archäologen in den 1880er-Jahren die ersten Schiffe bargen. „Seitdem dient das Schiff in seiner charakteristischen langen und spitzen Bauweise als ein ideales Symbol“, unterstreicht der Wissenschaftler, „ebenso wie die Schriftzeichen jener Zeit, die Runen.“ Ähnlich wie bei den antiken Skulpturen seien die Schiffe ursprünglich „knallbunt“ gewesen.
Auf das holzschnittartige Bild des Wikingers lasse sich vieles projizieren, meint Roland Scheel. So gebe es beispielsweise in manchen Supermärkten einen „Wikingertopf“ als Fertiggericht. „Das Etikett wird gerne für Dinge verwendet, die man mit Robustheit verbindet.“ Aus der Kinder- und Jugendkultur kennen viele Menschen die Fernsehserie „Wickie und die starken Männer“. Mitunter gaukele der Begriff Stärke vor, unterstreicht Roland Scheel. „Island erlebte vor der Bankenkrise 2008 einen großen Aufschwung an der Börse. Eine Selbstbezeichnung der Isländer war damals der ,Finanzwikinger‘.“
Den Alltagsmythos bezeichnet der Skandinavist, der die Wikingerforschung von seinen vorherigen Universitäten in Frankfurt und Göttingen nach Münster mitbrachte, als elastisch, weil er entkernt sei. „Jeder sieht den Mythos so stark als das Eigene, dass er es sich vom anderen nicht abnehmen lässt.“ Die Vorstellung von Wikingern als blonde, bärtige Männer mit blauen Augen verweist die Wissenschaft ins Reich der Fiktion. Roland Scheel spricht von „der Form eines hyperweißen Phantasmas – also ein Trugbild“. Bis heute versuchen auch Rechtsextreme den Mythos der Wikinger für sich zu vereinnahmen, beispielsweise die Alt-Right-Bewegung in den USA. In Freilichtmuseen gebe es manchmal das Problem, dass rechte Symbolik auftauche, berichtet Roland Scheel. „Haithabu erteilt seit einem Skandal vor ein paar Jahren entsprechenden Besuchern Hausverbot.“
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 7. Juni 2023.