Der Traum von einem einzigen Blatt einer Gutenberg-Bibel
Er hat einen antiken Stein ins Krankenhaus gebracht, einen authentischen Scheiterhaufen abgefackelt und Brotfladen nach einem Jahrtausende alten Rezept gebacken – alles für die Wissenschaft. Das Interesse an Geschichte und Büchern wurde Dr. Jan Graefe bereits in die Wiege gelegt. Sein Vater war Professor für Ägyptologie in Freiburg, bevor er in den 1980er-Jahren einen Ruf nach Münster annahm. „Nebenbei betrieb er Ahnenforschung und konnte unsere Familie bis ins Jahr 1648 zurückverfolgen. Darunter gab es einige Bibliothekare, Buchhändler und Lehrer“, berichtet der 44-Jährige. Umgeben von Büchern, Pergamenten und Artefakten arbeitet Jan Graefe im Bibelmuseum der Universität, das er seit fünf Jahren als Kustos leitet.
Wenn Jan Graefe während seines Studiums der Ur- und Frühgeschichte, Volkskunde und Geologie davon sprach, dass er „ins Museum“ wollte, ging es ihm nicht nur um die Freizeitbeschäftigung, sondern um seinen Berufsweg. Im Gustav-Lübke-Museum in Hamm gab er Führungen und begleitete Veranstaltungen. Als Volontär arbeitete er im Neandertal-Museum Mettmann an einer Ausstellung über historische Hinrichtungsstätten mit. „Als Experiment haben wir einen authentischen Scheiterhaufen nachgebaut und herunterbrennen lassen, um die Auswirkungen auf den Boden zu untersuchen“, erläutert der Historiker. Das Spektakel habe viele Medien angelockt und mit Vorurteilen aufgeräumt – etwa der „oft illusorischen bildlichen Darstellung von Scheiterhaufen“. Bevor er nach Münster wechselte, leitete er die Öffentlichkeitsarbeit im Stadtmuseum Düsseldorf.
Besucher nehmen lange Anreise in Kauf
Das Bibelmuseum, seit zehn Jahren seine Wirkungsstätte, ist Teil des Instituts für Neutestamentliche Textforschung (INTF) und weltberühmt. „An den Einträgen im Gästebuch sehen wir, dass Amerikaner auf Europareise extra für das Museum einen Abstecher nach Münster machen“, erläutert Jan Graefe. Acht Studierende, vor allem aus den Fächern Theologie und Geschichte, arbeiten mit unterschiedlicher Stundenanzahl pro Woche im Museum. Jan Graefe empfiehlt ihnen, jeweils fünf Lieblingsstücke auszuwählen und sich damit intensiver zu beschäftigen. „Das macht die Führungen lebendiger, als nur auswendig Gelerntes vorzutragen.“ Das museumspädagogische Programm legt er in die Hände angehender Lehrerinnen und Lehrer. Auch er profitiere von der Kreativität der Studierenden, betont Jan Graefe. Für die Sonderausstellung über Wasser in der Bibel habe beispielsweise ein Student das Motto wörtlich genommen und vorgeschlagen, eine Bibel mit Wasserschaden zu zeigen – auch als Ermahnung, mit überlieferten Kulturgütern pfleglich umzugehen.
Als Leihgabe für die nächste Sonderausstellung „Pflanzen in der Bibel“ stellt das Römermuseum Haltern des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) einen Mühlstein aus augusteischer Zeit zur Verfügung. Die Besucher können das Original in der Vitrine anschauen und an einem Nachbau versuchen, genug Mehl für ein kleines Fladenbrot herzustellen. „Das ist mühsam, war aber damals Alltag“, sagt Jan Graefe. „Mahl- und Mühlsteine spielten seit Jahrtausenden eine wichtige Rolle in der Ernährung der Menschen; selbst auf Feldzügen mussten Soldaten immer ihren Mühlstein mitnehmen.“
Naturwissenschaftliche Methoden für geisteswissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, ist für Archäologen normal. „Vor einigen Jahren haben wir im Uniklinikum eine Computertomographie eines Steins aus Babel erstellt. Die Ergebnisse haben die entsprechenden Bibelverse bestätigt. Tatsächlich ist daran das geschilderte ,Erdharz‘, also Bitumen, zu finden“, fasst Jan Graefe zusammen, „und es handelt sich um Lehmziegel, die dort nur im Bereich des Tempels verbaut wurden.“ Der Stein zählt zu seinen Lieblingsstücken, ebenso wie eine Lutherbibel mit einem Autograph aus letzter Hand: Martin Luther notierte in das Exemplar kurz vor seinem Tod 1546 einen tröstlichen Bibelvers.
Wertvolle Schenkungen bereichern die Sammlung des Bibelmuseums regelmäßig – zuletzt eine Erstausgabe der sogenannten King James Bible von 1611. Für evangelikale Amerikaner sei dies „die Bibelausgabe schlechthin“. Ein Traum wäre eine originale Gutenberg-Bibel. „Aber das ist unerreichbar für uns, weltweit sind nur noch 49 Stück davon vollständig erhalten“, bedauert der Kustos. „Daher wäre bereits ein einziges Blatt super.“
Wenn er sich nicht gerade Gedanken über die nächste Ausstellung, seine Forschung oder auch den Ankauf neuer Exponate macht, dreht der Historiker gerne eine Runde mit seinen beiden Hunden, einem Labrador- und einem Jack-Russel-Mix. Mehrfach pro Woche trifft man ihn beim Handball-Training der dritten Herrenmannschaft von SV Adler Münster. Dabei nimmt er eine komplett andere Rolle als im Museum ein. „Als Kreisläufer sorge ich gerne für Unruhe in der Abwehr der gegnerischen Mannschaft.“
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 7. Juni 2023.