|
Münster (upm/kk).
Einbau eines neuen Silizium-Detektors in der Nähe des LHC-Strahlrohres.© CERN
Fotos

„Vertrauen ist das höchste Gut“

Physiker Christian Klein-Bösing über die Zusammenarbeit am CERN – einer der größten Forschungseinrichtungen weltweit

Den Geheimnissen des Universums auf die Spur kommen. Das ist eins von vielen Zielen, das am CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) in Genf angestrebt wird. Mit 23 Mitgliedstaaten und etwa 3.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist das CERN das weltweit größte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik. Mehr als 14.000 Gastwissenschaftler aus 85 Nationen arbeiten an CERN-Experimenten. Einer davon ist Prof. Dr. Christian Klein-Bösing vom Institut für Kernphysik der WWU. Er beschäftigt sich unter anderem mit dem ALICE-Projekt (A Large Ion Collider Experiment) – eines der vier großen Experimente am Large Hadron Collider (LHC) des CERN; mit 27 Kilometern der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Um was es dabei genau geht und wie die Zusammenarbeit in einem großen internationalen Team aussieht, berichtet der Experte für Kern- und Teilchenphysik Kathrin Kottke in einem Interview.

Um was geht es in Ihrer Forschung?

Ich möchte die Bausteine der Materie verstehen. Das sind die kleinsten Teilchen, die wir bis heute kennen und auf denen das gesamte sichtbare Weltall und das Leben auf der Erde fußt. Dazu muss man wissen, dass Materie aus Atomen aufgebaut ist, die aus Atomkernen und Elektronen bestehen. Atomkerne haben wiederum noch kleinere Bausteine: Protonen und Neutronen, die aus sogenannten Quarks bestehen.

Und diese Quarks möchten Sie untersuchen?

Genau. Allerdings kann man sie nicht einfach beobachten. Die Isolation der Quarks ist ein aufwendiger Prozess, der spezielle technologische Verfahren benötigt. Damit sich Quarks frei bewegen können, müssen wir die Atomkerne so weit erhitzen, dass sie sich auflösen. Dafür braucht man hohe Temperaturen – die erreichen wir aber nur, wenn wir die Atomkerne mit einer solchen Wucht aufeinander schießen, dass sie sich in ihre Bestandteile auflösen.

Und da kommt das CERN ins Spiel?

Unsere Experimente führen wir mit dem ALICE-Projekt am CERN durch. Dabei handelt es sich um einen Vielzweckdetektor, der für Kollisionen von schweren Atomkernen, zum Beispiel Blei, optimiert ist. Bei der Kollision entsteht für einen Sekundenbruchteil ein Zustand der Materie, wie er unmittelbar nach dem Urknall herrschte.

Um diese Versuche durchzuführen, benötigt man vermutlich viele Expertinnen und Experten mit unterschiedlichen Kompetenzen...

Das stimmt. Als Teilchenphysiker alleine käme ich nicht weit mit meinen Fragestellungen und Experimenten. Die Zusammenarbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Teildisziplinen – wie etwa Physik, Chemie, Materialwissenschaften, Informatik und Mathematik –, aber auch die Expertise des technischen Personals und der Ingenieure ist unerlässlich. Der Blick über den Tellerrand meiner eigenen Fachdisziplin motiviert mich jeden Tag und bringt mir viel Freude.

Haben Sie ein Beispiel, warum die interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtig ist?

Vor einigen Jahren mussten wir ein technisches Problem lösen, da an einem Detektor ein winziger Kondensator kaputt war. Unsere erste Befürchtung war, dass wir den Detektor in einem sehr aufwendigen Verfahren komplett auseinandernehmen müssten. Die Techniker schlugen vor, das Blech an der Seite vorsichtig auszufräsen und aufzuziehen – vergleichbar mit einer Fischdose. Den Kondensator konnten wir rausnehmen und das Blech wieder zukleben. Das war eine schöne Gemeinschaftsleistung, auf die ich alleine nicht gekommen wäre.

Mit etwa 2.000 Mitarbeitern ist ALICE eins der größten Einzelexperimente am CERN. Klingt nach einer organisatorischen Mammutaufgabe …

Die Planungen und das Management finden auf verschiedenen Ebenen statt. Allein am ALICE-Experiment arbeiten rund 600 Physikerinnen und Physiker. Zeitliche Absprachen sind das A und O – viele Besprechungen finden inzwischen digital statt, trotzdem bin ich in der Regel ein- bis zweimal pro Jahr vor Ort. Die Versuche, die mit dem großen Beschleuniger (LHC) laufen, werden Jahre im Voraus terminiert, beispielsweise finden die Kollisionen schwerer Kerne immer im November und Dezember eines jeden Jahres statt. Es gibt aber auch kleinere Experimente am CERN, bei denen man sich mit seinen Versuchen integrieren kann und die weniger Vorlaufzeit benötigen.

Muss man für alle Versuche vor Ort sein?

Nicht unbedingt. Viele der Daten, die bei den Experimenten erzeugt werden, werden uns digital zur Verfügung gestellt, und wir können sie in Münster auswerten. Einige Aufgaben erfordern wiederum unsere Anwesenheit. Zum Beispiel müssen wir gelegentlich unseren Detektor reparieren oder warten, das geht nur vor Ort. Oder wenn die Kollisionen in ALICE aufgezeichnet werden, muss das gesamte Experimente über mehrere Wochen und 24 Stunden am Tag überwacht werden, hierfür muss jedes Mitglied von ALICE Schichten am CERN leisten.

Wie heißt es so schön: Viele Köche verderben den Brei. Wer trifft im CERN die Entscheidungen?

Das höchste Gremium ist das ,CERN Council', in dem die 23 Mitgliedsstaaten vertreten sind und Entscheidungen treffen. Diese Staaten verpflichten sich, gemäß ihrem Bruttoinlandsprodukt, zum CERN-Budget beizutragen. Das liegt etwa bei einer Milliarde Schweizer Franken. Hier gibt es ein ausgeklügeltes System, das dafür sorgt, die jeweiligen Investitionen wieder in die Länder zurückfließen zu lassen, die das Geld investiert haben. Zudem gibt es eine Reihe von weiteren Gremien. Zum Beispiel gibt es für ALICE das ,Collaboration Board', indem jedes Institut vertreten ist. Dieses Board ernennt weitere Gremien mit inhaltlichen Zuständigkeiten, wie etwa Physik, Technik, Publikationen oder Öffentlichkeitsarbeit. Dann gibt es weitere Themen-Untergruppen, in denen jeweils ein Vorsitzender und weitere Vertreter gewählt werden.

Klingt nach viel Bürokratie …

Anders geht es aber leider nicht. Eine besondere Herausforderung dabei ist, dass niemand weisungsgebunden ist. Arbeitsrechtlich bin ich beispielsweise an die Universität Münster gebunden und nicht ans CERN. Dort hängt fast alles an der Eigenverantwortung der Menschen, die dort arbeiten und forschen.

Das setzt vermutlich auch eine große Portion Vertrauen voraus.

Egal, ob es um den Umgang mit der Technik, mit den Daten und miteinander geht: Vertrauen ist das höchste Gut.

Haben Sie eine besondere Erinnerung oder Begegnung am CERN, die Ihnen in Erinnerung geblieben ist?

Bevor ich 2008 an der Universität Münster angefangen habe, war ich zwei Jahre angestellter Wissenschaftler am CERN. Während dieser Zeit habe ich meine Forschung in einem Kolloquium vorgestellt – in dem Hörsaal, in dem später auch die sogenannte ,Higgs-Entdeckung' bekannt gegeben wurde. Ein älterer Herr stellte mir während meines Vortrags viele interessante Fragen. Anschließend sind wir in die Cafeteria gegangen und haben weiterdiskutiert. Ohne dass ich es wusste, unterhielt ich mich mit dem Nobelpreisträger Jack Steinberger. Das war eine große Ehre und eine besondere Erinnerung.

Links zu dieser Meldung