Geistlicher Missbrauch im Fokus
Die Theologin und Soziologin Prof. Dr. Judith Könemann untersucht in den nächsten drei Jahren das Phänomen des geistlichen beziehungsweise spirituellen Missbrauchs. Gefördert wird das Forschungsprojekt von den Bistümern Osnabrück und Münster sowie der Deutschen Bischofskonferenz und dem Orden der Thuiner Franziskanerinnen mit Sitz im Emsland. Ein besonderes Augenmerk der Studie gilt geistlichen Gemeinschaften.
„Geistlicher Missbrauch kann Anbahnung zum sexuellen Missbrauch sein. Es ist aber auch ein eigenständiges, bisher nur in Ansätzen erforschtes Phänomen“, erläutert die Professorin für Praktische Theologie, Religionspädagogik und Genderforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät. Bei diesem Phänomen handelt es sich nicht um sexualisierte Gewalt, sondern um eine Form psychischer Gewalt. „Geistlicher Missbrauch ist immer mit der Ausübung und dem Missbrauch von Macht verbunden sowie mit Manipulation und Willkür“, erläutert die Forscherin. Dabei verletze eine geistliche Autoritätsperson die persönliche Freiheit, die spirituelle Selbstbestimmung und die psychische, seelische und soziale Integrität ihres Gegenübers. Das missbräuchliche Handeln werde dabei geistlich beziehungsweise sakral aufgeladen und auf diese Weise legitimiert und als richtig behauptet.
„Untersuchungen zu diesem vielschichtigen Phänomen existieren zwar, sie stehen jedoch noch am Beginn“, betont Judith Könemann. Das neue Projekt zielt darauf, am Beispiel geistlicher Gemeinschaften grundlegende Faktoren zu ermitteln, die geistlichen Missbrauch entstehen lassen und dessen Fortführung begünstigen. Das betrifft systemische wie strukturelle Aspekte innerhalb geistlicher Gemeinschaften wie der Kontexte, in die sie eingebettet sind. Anliegen des Projekts ist es, das Phänomen wissenschaftlich zu erforschen, aber auch Betroffenen Gehör zu verschaffen. Daraus sollen schließlich Perspektiven für die Prävention entwickelt werden.
Ausgangspunkt des Projekts zur Erforschung geistlichen Missbrauchs sind geistliche Gemeinschaften und Bewegungen in den Diözesen Osnabrück und Münster, wo verschiedene deutschlandweit agierende, aber auch bistumsspezifische Gemeinschaften angesiedelt waren und sind. Für mindestens zwei von ihnen ist bekannt, dass dort geistlicher Missbrauch ausgeübt wurde.
„Das Projekt untersucht geistlichen Missbrauch aus einer praktisch-theologischen Perspektive, wobei die zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen und pastoralgeschichtlichen Bedingungsfaktoren mitberücksichtigt werden“, erläutert Judith Könemann. Konkret gehe es „um die Folgen des geistlichen Missbrauchs für die Betroffenen“. Auch sei zu fragen, „welche Voraussetzungen und Strukturen geistlichen Missbrauch entstehen lassen und aufrechterhalten, welche religiösen Praktiken, theologischen Überzeugungen und anthropologischen Konzepte diesen unterstützen oder welchen Einfluss spirituelle Traditionen und spezifische Formen geistlichen Lebens haben.“ So folgt die Studie zunächst einem archivalischen Zugang, der möglichst alle relevanten, in den Archiven, aber auch laufenden Registraturen zu findenden Akten umfasst und etwa Beschwerden, Protokolle, Berichte, Zeitungsartikel und unterschiedlichste Schriftwechsel beinhaltet. Die Diözesen und die Ordensgemeinschaft haben zugesagt, unter Beachtung der datenschutz- und archivrechtlichen Vorgaben uneingeschränkten und freien Zugang zu allen Dokumenten zu gewähren.
Wichtiger Zugang für die Studie sind auch Interviews mit Betroffenen und (ehemaligen) Mitgliedern der Gemeinschaften. „Wir führen Interviews mit denen, die sich bei uns melden“, sagt die Theologin, die wegen des sensiblen Themas für die Betroffenen mit längeren Gesprächen rechnet. Ihr Team befragt zudem ehemalige und gegenwärtige Verantwortliche der beiden Bistümer und der Ordensgemeinschaft sowie andere Zeitzeugen. Zu den sogenannten „Wissensträgern“ zählen aber auch Eltern von Mitgliedern oder Menschen aus Kirchengemeinden. Die Interviews stellen neben dem Aktenstudium die zentrale Datenbasis der Untersuchung dar.
Das Projekt wird von einem Beirat begleitet, in dem verschiedene (fachliche) Perspektiven, darunter auch die der Betroffenen, vertreten sind. Dieser Beirat unterstützt das Forschungsteam etwa bei inhaltlichen Fragen und gibt Impulse, um so „immer wieder den Horizont zu weiten“, wie Judith Könemann unterstreicht. „Die exemplarischen Analysen unserer unabhängigen Studie sollen für die Gesamtheit der deutschen Diözesen von Relevanz sein und nicht zuletzt die Präventionsarbeit stärken.“
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 2. Februar 2023.