|
Münster (upm/kn).
Siegen für den Sozialismus: Schätzungen zufolge waren etwa 8.000 bis 10.000 Sportlerinnen und Sportler in das staatliche Dopingprogramm der DDR einbezogen.<address>© picture-alliance/dpa - Wolfgang Weihs</address>
Siegen für den Sozialismus: Schätzungen zufolge waren etwa 8.000 bis 10.000 Sportlerinnen und Sportler in das staatliche Dopingprogramm der DDR einbezogen.
© picture-alliance/dpa - Wolfgang Weihs

„Die Strafurteile zeigen das erschreckende Ausmaß des DDR-Dopingsystems“

Rechtswissenschaftlerin Michaela Galandi analysierte erstmals die juristischen Prozesse gegen die Verantwortlichen der DDR

Die sportliche Führung der DDR setzte bei seinen häufig noch minderjährigen Athletinnen und Athleten gezielt und flächendeckend Dopingmittel ein. Schätzungen zufolge waren etwa 8.000 bis 10.000 Sportler in das staatliche Dopingprogramm einbezogen. Bundesdeutsche Gerichte werteten das DDR-Zwangsdoping als vorsätzliche Körperverletzung. Dr. Michaela Galandi beschäftigte sich in ihrer am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster erstellten Dissertation mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Zwangsdoping. Die Juristin analysierte nach Abschluss der Strafverfahren Anfang der 2000er-Jahre nun erstmals alle Prozesse. Im Gespräch mit Kathrin Nolte schildert sie den juristischen Umgang mit den Verantwortlichen und die Bedeutung der strafrechtlichen Aufarbeitung für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der sportlichen Vergangenheit der DDR.

Der Fall der Berliner Mauer liegt mehr 30 Jahre zurück. Warum ist die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung von DDR-Unrecht mit Blick auf das Zwangsdoping nicht nur für die Betroffenen wichtig?

Es kann insbesondere für das kollektive Erinnern von Bedeutung sein. Die von der bundesdeutschen Strafjustiz getroffenen Feststellungen können den gesellschaftlichen und politischen Diskurs bereichern – nicht nur zwischen Betroffenen, sondern auch zwischen Tätern und Opfern oder für jüngere Generationen, die das geteilte Deutschland nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennen.

Apropos Täter: Wie ist die bundesdeutsche Justiz mit den Verantwortlichen umgegangen?

Es hat 38 bundesdeutsche Strafverfahren gegen 67 Angeschuldigte gegeben, die im Durchschnitt 59 Jahre alt waren. 73 Prozent der Beschuldigten wurden verurteilt: 65 Prozent von ihnen mussten eine Geldstrafe zahlen, 35 Prozent wurden zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Das klingt nicht nach einer Prozessflut ...

Man muss berücksichtigen, dass auch einige Verfahren gegen Beschuldigte eingestellt wurden, nachdem sie Geldbußen an gemeinnützige Organisationen oder an die Staatskasse geleistet hatten. In anderen Fällen wurde das Hauptverfahren wegen Verfolgungsverjährung erst gar nicht eröffnet.

Und wer waren die Täter?

Bei den Verurteilten handelte es sich um 15 Trainer, 19 Sportärzte und 14 staatliche Verantwortungsträger. Sie alle wurden wegen vorsätzlicher Körperverletzung oder der Beteiligung daran verurteilt.

Wie fällt denn Ihr Urteil über die juristische Aufarbeitung des DDR-Staatsdopings aus?

Dr. Michaela Galandi<address>© Gleiss Lutz</address>
Dr. Michaela Galandi
© Gleiss Lutz
Gemischt. Ich fand es überzeugend, wie die bundesdeutschen Gerichte die Voraussetzungen dafür erläutert und bejaht haben, um die Täter, die Sportlern Dopingsubstanzen verabreicht haben, wegen einfacher vorsätzlicher Körperverletzung zu verurteilen. Schwergetan haben sie und die Schwerpunktstaatsanwaltschaften sich hingegen in der Auseinandersetzung mit weiteren Körperverletzungstatbeständen. So kann das Setzen einer Spritze zur Dopingmittelinjektion laut der vorherrschenden Meinung in der Rechtsprechung zum Beispiel unter Umständen den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung erfüllen. Auch hätten sich die Gerichte mehr mit dem Straftatbestand einer lebensgefährdenden Behandlung oder sogar der schweren Körperverletzung auseinandersetzen können. Weshalb dies nicht geschah, lag vermutlich sowohl in den Voraussetzungen der jeweiligen Rechtsnormen selbst wie auch in praktischen Erwägungen begründet. So wäre es mitunter ohnehin bei dem geringeren Strafrahmen des DDR-Rechts geblieben, oder es wäre wegen der zeitlichen Verschiebung von Dopingmitteleinnahme und Eintritt der gesundheitsschädigenden Folge zu Beweisschwierigkeiten im Rahmen der Kausalität gekommen.

Und was ist aus Ihrer Sicht nicht vertretbar?

Nicht haltbar ist meines Erachtens die zum Teil von den Schwerpunktstaatsanwaltschaften und der bundesdeutschen Justiz vertretene Annahme, dass sowohl nach dem Strafrecht der DDR als auch nach dem bundesdeutschen Strafrecht in gewissen Konstellationen eine ‚Mittäterschaft‘, das heißt ein gemeinschaftliches Zusammenwirken von zum Beispiel Trainer und Sportarzt, bei der Dopingmittelvergabe vorgelegen habe. Das Strafrecht der DDR verlangte insofern eine tatsächlich gemeinsame Tatausführung aller Beteiligten. Das ist ein engeres Verständnis von der Mittäterschaft als in der Bundesrepublik, wo bereits eine Mittäterschaft bejaht werden kann, wenn eine Person nicht an der unmittelbaren Tatausführung selbst beteiligt war, wohl aber beispielsweise bei der Vorbereitung. Mein zweiter Punkt: Die ‚mittelbare Täterschaft‘, das heißt, wenn zum Beispiel ein Trainer seinem Schützling Dopingmittel in Tablettenform gab, hätte intensiver problematisiert werden können. Selbiges gilt für die Anstiftung in Bezug auf staatliche Verantwortungsträger. Schließlich finde ich es auch nicht nachvollziehbar, dass der Straftatbestand der Nötigung nicht berücksichtigt wurde. Natürlich wäre es schwierig geworden, den ,Erfolg‘ einer Nötigung im konkreten Fall zu beweisen. Es wäre aber jedenfalls im Sinne einer vollständigen strafrechtlichen Aufarbeitung aller in der DDR begangenen Straftaten im Leistungssport gewesen, auch dieses Delikt zu beachten.

Die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung mit Blick auf das DDR-Zwangsdoping ist damit abgeschlossen. Wie beurteilen Sie diese abschließend?

Trotz einzelner Kritikpunkte überwiegend positiv. Die bundesdeutschen Strafurteile belegen eindrücklich, worüber zuvor nur spekuliert werden konnte. Sie zeigen das erschreckende Ausmaß des DDR-Dopingsystems. Diese Bedeutung wird auch nicht durch die verhältnismäßig geringen Strafen geschmälert. Entscheidend ist, dass aufgezeigt wurde, wie der DDR-Leistungssport organisiert war und auf welchen geheimen Wegen die Dopingmittel verabreicht wurden. Die Gerichte haben in diesem Zusammenhang die wichtigen sportlichen Institutionen und ihre jeweiligen Aufgabenbereiche benannt und die schrittweise Entwicklung hin zum Netzwerk ‚Zwangsdoping‘ erläutert. Sie haben zudem die in der DDR eingesetzten Dopingmittel aufgelistet und ihre Wirkungsweisen konkret beschrieben. Diese Ausführungen können jeder Ostalgie entgegenwirken und sind hoffentlich auch für die Dopingopfer hilfreich bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse.

Kann Ihre Dissertation auch dabei helfen, die gesellschaftspolitische und moralische Schuld aufzuarbeiten?

Natürlich kann das Strafrecht keine umfassende Verarbeitung staatlich gesteuerten Unrechts leisten. Es ist letztlich nur ein beschränktes Mittel für einen pragmatischen Umgang mit den Taten und bietet keinen Ersatz für die Aufarbeitung der gesellschaftspolitischen und moralischen Schuld. Das Strafrecht kann allerdings – wie eingangs erwähnt – zum weiteren notwendigen Diskurs beitragen. In diesem Rahmen kann meine Dissertation möglicherweise einen Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte leisten und es schaffen, einen bisher eher vernachlässigten Teil der gesamtdeutschen Strafrechtsgeschichte zu beleuchten.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 16. November 2022.

Links zu dieser Meldung