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Münster (upm/nor).
Laut Umfragen möchten etwa 90 Prozent aller Menschen zu Hause sterben. Tatsächlich sterben nach Schätzungen jedoch etwa 50 Prozent im Krankenhaus und weitere 20 Prozent im Pflegeheim.<address>© BillionPhotos.com - stock.adobe.com</address>
Laut Umfragen möchten etwa 90 Prozent aller Menschen zu Hause sterben. Tatsächlich sterben nach Schätzungen jedoch etwa 50 Prozent im Krankenhaus und weitere 20 Prozent im Pflegeheim.
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„Es gibt keine moralischen oder rechtlichen Pflichten für das eigene Sterben“

Interview zur Hospizbewegung und Sterbehilfe

Sind alle juristischen Fragen zum Thema Sterbehilfe in Deutschland geklärt? Welche Rechte und Pflichten haben Bürger und Ärzte? Aus Anlass des Deutschen Hospiztags am 14. Oktober diskutieren die Medizinethikerin Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert und der Medizinrechtler Prof. Dr. Thomas Gutmann mit Norbert Robers über die aktuelle Situation.

Der deutsche Hospizverband meint, dass unsere Gesellschaft nach wie vor zu selten über den Tod spricht, dass dieses Thema noch immer tabuisiert wird. Stimmen Sie dem zu?

Bettina Schöne-Seifert: Jeder Mensch muss allein entscheiden, ob und wie oft er über die eigene Endlichkeit und den Tod nachdenken will. Die These stimmt aber insofern, als viele Menschen zu wenig darüber wissen, unter welchen Umständen man heute sterben kann – obwohl die grundlegenden Prinzipien schnell erklärt sind.

Thomas Gutmann: Ich stimme dem zu. Auch rechtlich betrachtet sind der Tod und der Weg dorthin eine individuelle Angelegenheit. Meiner Beobachtung nach stimmt es aber nicht, dass unsere Gesellschaft den Tod marginalisiert oder verdrängt. Viele Menschen haben beispielsweise eine Patientenverfügung, zudem gab es in den vergangenen Jahren intensive Debatten im Bundestag und in der Öffentlichkeit über den assistierten Suizid.

Schöne-Seifert: Es gibt aber Luft nach oben. Ich treffe häufig Menschen, die wenig bis nichts über die Sterbehilferegelungen wissen. Die Meinung, dass man dafür in die Schweiz fahren müsse, ist nach wie vor sehr verbreitet ...

Gutmann: ... und dazu gehören auch viele Ärzte und Juristen. Wir genießen zwar in Deutschland Spitzenmedizin – aber das Wissen über die rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen der Sterbehilfe entspricht häufig nicht diesem Niveau. Das ist in anderen Ländern anders. Dies ist im Übrigen vor allem ein Selbstvorwurf: Wir Juristen haben in diesen Fragen über Jahrzehnte hinweg ein wahres Chaos angerichtet. Seit 20 Jahren bemühen wir uns darum, wieder Ordnung in die Dogmatik der Sterbehilfe zu bringen – nun auch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts.

Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert<address>© privat</address>
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert
© privat
Sie sagten, Frau Schöne-Seifert, dass die wesentlichen Prinzipien der aktuellen Sterbehilferegelungen schnell erklärt sind. Welche Rechte und Pflichten haben die Bürger denn aktuell?

Schöne-Seifert: Es gibt keine moralischen oder rechtlichen Pflichten in Bezug auf das eigene Sterben. Niemand muss am Leben bleiben oder sein Leben ertragen. Die Bürger haben das Recht, auf alle lebenserhaltenden Maßnahmen zu verzichten, einschließlich der künstlichen Beatmung und Ernährung, und sie dürfen auch das sogenannte Sterbefasten praktizieren. Schließlich legte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 auch fest, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen und dafür die angebotene Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen.

Ist damit juristisch alles geklärt?

Gutmann: Im Wesentlichen ja, das Verfassungsgericht hat mit seiner Jahrhundertentscheidung im Februar 2020 reichlich diskursiven Müll aus den vergangenen Jahrzehnten weggeräumt und den Weg für eine vernünftige Diskussion geebnet. Die großen Linien sind klar, jetzt geht es um die Details. Der Bundestag diskutiert beispielsweise derzeit darüber, welche konkreten Auswirkungen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat. Die Voraussetzung für den assistierten Suizid ist, dass er freiverantwortlich ist -, dass er also auf einer hinreichend autonomen, ernsthaften und stabilen Entscheidung beruht. Das muss verfahrensmäßig sichergestellt werden ...

Schöne-Seifert: ... beispielsweise mit einer Beratungspflicht, deren konkrete Ausgestaltung zurzeit für Kontroversen sorgt.

Gutmann: Und obwohl das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt ist, wird man im Verfahren unterscheiden müssen zwischen Menschen, bei denen der Tod unmittelbar bevorsteht und denen, bei denen dies ohne Hilfe nicht der Fall wäre. Das sind wichtige Einzelheiten.

Schöne-Seifert: Auch aus medizinethischer Sicht müssen wir verschiedene Konstellationen sehr genau auseinanderhalten: Etwa den Fall, dass jemand lebenssatt ist oder die Sorge hat, dass das Leben von nun an immer beschwerlicher wird, von einem Fall konkret krankheitsbezogener Sorgen, in dem beispielsweise jemand einer bereits diagnostizierten und fortschreitenden Demenz vorbeugen will.

 

Verantwortungsvolle Sterbebegleitung schließt keine Option von Anfang an aus.
Prof. Dr. Thomas Gutmann

 

So mancher Beobachter oder Kritiker würde spätestens jetzt einwenden: Es geht viel zu sehr darum, den Tod zu unterstützen, anstatt Leben zu retten ...

Schöne-Seifert: Ich halte das Argument, dass durch die aktuellen Regeln das Verhindern von nicht freiverantwortlichen Suiziden auf der Strecke bleiben könnte, für absurd. Damit will man möglicherweise sogar absichtlich Angst schüren. Zudem sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass wir beides brauchen: Wir müssen einerseits alles dafür tun, das Leben auch im hohen Alter lebenswert zu halten, etwa durch eine optimale Betreuung und durch verbesserte Technik – und wir müssen andererseits denjenigen einen freiverantwortlichen Tod ermöglichen, die ihn trotz allem vorziehen.

Gutmann: Vollkommen richtig. Deswegen möchte ich die Bedeutung der Hospizbewegung und der Palliativmedizin unterstreichen. Andere Länder waren bei diesem Thema übrigens viel früher aktiv als wir. Ich erinnere mich daran, dass ich noch vor 30 Jahren Hausärzte anschreien musste, damit sie krebskranken Menschen wenigstens die geringsten Schmerzmittel gaben. Es ist Körperverletzung, wenn Ärzte ihren Patienten eine notwendige und gewollte palliativ­medizinische Versorgung verweigern. Wir hatten in Deutschland viel zu lange die Karl-May-Einstellung, wonach Indianer keinen Schmerz kennen.

Ist in Folge dieser – Ihrer Einschätzung nach positiven – Entwicklung die Diskussion auch sachlicher geworden?

Gutmann: Ja, aber der Effekt ist begrenzt. Die Verfügung über das eigene Leben berührte immer den Machtanspruch der Religionen. Wir Juristen sind die Doktrin der ,Heiligkeit des Lebens‘ nie losgeworden. Im kollektiven Unterbewusstsein ist der Anspruch, den Menschen diese Entscheidung zu verwehren, daher immer noch vorhanden – aus ideologischen Gründen wird es also auch in unserem liberalen Rechtsstaat nie eine vollkommene Befriedung bei Themen wie Sterbehilfe oder Abtreibung geben.

Schöne-Seifert: Es gibt deutlich mehr stationäre Hospize als vor 30 Jahren, es gibt Kinderhospize, hinzu kommen die ambulanten Palliativversorgungsteams: Die Hospizbewegung und die Entwicklungen in der Palliativmedizin sind wirklich ein Segen. All das hat aber mit der Frage des assistierten Suizids nichts zu tun. Dieser Zusammenhang kommt in der öffentlichen Wahrnehmung auch nur deswegen zustande, weil gerade die organisierte Palliativmedizin immer wieder Kritik an der Zulässigkeit des assistierten Suizids äußert – im Gegensatz zu den vielen palliativmedizinisch tätigen Ärzten übrigens, die sich mehrheitlich diesem Gedanken sehr wohl anschließen.  Dieses Entweder-oder-Argument, wonach wir den assistierten Suizid nicht brauchen, weil wir doch eine so gute Palliativmedizin haben, ist eine unzulässige Verkürzung der Debatte. Man muss es jedem einzelnen Menschen überlassen, ob er palliativmedizinisch betreut werden will – das sind gewiss die Allermeisten –, oder ob er sich für einen Suizid entscheidet.

Prof. Dr. Thomas Gutmann<address>© Vincent Leifer - Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald</address>
Prof. Dr. Thomas Gutmann
© Vincent Leifer - Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Gutmann: Verantwortungsvolle Sterbebegleitung schließt keine Option von Anfang an aus. Es ist wichtig, sich leidenschaftlich für eine palliativmedizinische Betreuung von sterbenskranken Menschen einzusetzen. Aber man darf nicht im Gegenzug verlangen, dass die Betroffenen dafür von vornherein auf ihr Recht auf einen assistierten Suizid als Ultima Ratio verzichten. Wir sind dazu verpflichtet, ihnen zu garantieren, dass sie nicht vereinsamt und ohne adäquate Hilfe sterben müssen. Und wir müssen ihnen zugleich versichern, dass es einen letzten Ausweg gibt – allein diese Gewissheit ist in vielen Fällen die beste Suizidprävention.

Schöne-Seifert: Zur Suizid-Verhinderung: Welche Rücksicht ein Suizidwilliger bei seinem Entschluss auf ablehnende, verzweifelte Angehörige nimmt, ist Teil seiner Privatentscheidung; von außen kann man nur hoffen, dass er hier nicht in belastende Gewissenskonflikte gerät. Ich halte es aber für ethisch nicht vertretbar, wenn jemand einen Suizid nicht begeht, weil die Gesellschaft ihm Steine in den Weg legt, obwohl er es sich intensiv überlegt und eine gründliche Beratung erhalten hat. Das ist Fremdbestimmung, die ich ablehne. Im Übrigen, lieber Thomas, reden auch wir selbst vielleicht zu oft so, als wäre Suizidprävention immer wünschenswert.

Gutmann: Das stimmt. Deswegen hat auch das Bundesverfassungsgericht genau unterschieden zwischen der notwendigen Suizidprävention von Menschen, die sich beispielsweise in einer akuten psychischen Krise befinden oder anderen Einflüssen ausgeliefert ist, die ihre Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährden, und den wohlüberlegten Suizidwünschen von Menschen, die wir zu respektieren haben. Das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Die inadäquate Burgmentalität einer bürokratisierten Funktionärsethik der Ärzteschaft, die die eigentlichen ethischen Fragen immer ignoriert hat, wird glücklicherweise immer weiter zurückgedrängt – zugunsten von individuellen und selbstbestimmten Entscheidungen jedes einzelnen Arztes.

Sie haben beide ausgeführt, was Gerichte entschieden haben, wie Funktionäre denken und wie Sie darüber urteilen. Aber was wissen wir eigentlich über die Bürger – welche Erwartungen und Wünsche haben sie?

Schöne-Seifert: Es gibt zahlreiche Umfragen, die zeigen, dass eine stabile Mehrheit die ethische und rechtliche Zulässigkeit von Suizidassistenz befürwortet. Wobei es stark darauf ankommt, inwiefern die Befragten überhaupt wissen, was beispielsweise Sterbefasten oder palliative Sedierung konkret bedeuten.

Gutmann: Ich behaupte, dass jeder das folgende Paket wollen würde, wenn er es denn haben könnte: Alle Betroffenen sollten ohne Vorbehalte über alle Optionen aufgeklärt werden, inklusive der heutzutage guten Betreuungsmöglichkeiten im Hospiz und inklusive der Möglichkeit, am Ende, wenn nötig, auch beim Sterben auf Hilfe setzen zu dürfen.

Schöne-Seifert: So wie es Privatsache sein sollte, sich mit seinem Tod vorausschauend zu beschäftigen, so sollte es auch Privatsache sein, Art und Ausmaß von Hilfe beim Sterben zu bestimmen. Wir sollten als Gesellschaft beides bieten: eine optimale Betreuung von kranken und hochbetagten Menschen und die Bereitstellung von Notausgängen.

 

Zu den Personen:

Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert hat ihr Studium in Humanmedizin und Philosophie / Bioethik absolviert. Seit 2003 ist sie Professorin für Medizinethik an der Medizinischen Fakultät der WWU Münster. Zudem ist sie geschäftsführende Direktorin des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin und hat den Lehrstuhl für Medizinethik inne.

Prof. Dr. Thomas Gutmann hat Rechtswissenschaft, Politische Wissenschaft und Philosophie an der Universität München studiert. Seit 2006 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der WWU Münster. Zudem ist er Direktor des Instituts für Rechtsphilosophische Forschung.

 

Info: Deutscher Hospiz- und PalliativVerband

Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband e.V. (DHPV) wurde 1992 gegründet. Heute bildet er das Dach von 26 überregionalen Organisationen der Hospiz- und Palliativarbeit. Mehr als 120.000 Menschen engagieren sich in Deutschland hauptberuflich und ehrenamtlich für schwerstkranke und sterbende Menschen. Bundesweit gibt es rund 250 stationäre Hospize für Erwachsene, 19 Kinder- und Jugendhospize sowie 340 Palliativstationen in Krankenhäusern. Zudem gibt es über 400 Teams, die sich auf die ambulante Palliativversorgung spezialisiert haben. Von 2005 bis 2021 ist die Zahl der Ärzte mit der Zusatzausbildung Palliativmedizin von 100 auf 14.620 gestiegen.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 12. Oktober 2022

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