Interview zu Corona: „Wir sind auf eine mögliche Krise im Herbst gut vorbereitet“
Der nächste Corona-Winter steht vor der Tür. Viele Menschen fragen sich, welche neuen Entwicklungen und Regelungen das Virus mit sich bringen und ob es weitere Atemwegserreger geben wird. Das wird auch eines der Themen auf der internationalen Influenza-Tagung sein, die vom 2. bis 4. September an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster stattfinden wird. Kathrin Kottke sprach aus diesem Anlass mit Prof. Dr. Stephan Ludwig, Direktor des Instituts für Virologie der WWU, über mögliche neue Corona-Varianten, Gegenmaßnahmen und über seine Forschung auf dem Gebiet der Zoonosen, also von Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden können.
Alpha, Beta, Gamma, Delta und jetzt Omikron – müssen wir uns darauf einstellen, dass es auf absehbare Zeit immer neue Coronavirus-Varianten geben wird?
Ja, davon müssen wir ausgehen. Die Entstehung solcher Varianten wird insbesondere durch die hohe Virusmenge begünstigt, die es durch die vielen Infektionen weltweit gibt. Es gibt allerdings auch gute Nachrichten: Im Moment sinken die Infektionsraten in Europa, und es ist noch keine neue Variante in Sicht, die uns im Herbst besondere Probleme bereiten könnte. Außerdem stehen demnächst die für Omikron angepassten Impfstoffe zur Verfügung.
Die Impfstoffe werden also auch kontinuierlich weiterentwickelt?
Aktuell wurde angekündigt, dass die angepassten Impfstoffe an die BA.1-Variante von Omikron bereits im September ausgeliefert werden können. Die Aufsichtsbehörden sind zurzeit in der Endphase der Prüfung von Impfstoffen gegen die Varianten BA.4 und BA.5, die erfreulicherweise bald zur Verfügung stehen werden.
Ist eine vollständige Eindämmung also illusorisch?
Das Coronavirus verschwindet nicht einfach so, sondern wird uns auch in Zukunft begleiten. Ähnlich wie das beispielsweise bei immer neu auftretenden Varianten von Grippeviren der Fall ist.
Müssen wir im Herbst und Winter mit steigenden Infektionszahlen und auch mit mehr Patienten rechnen, die intensivmedizinisch behandelt werden?
Die vergangenen zwei Jahre haben uns gezeigt, dass das Coronavirus eine hohe Saisonalität hat, also im Herbst und Winter stärker auftritt. Daher ist mit einem Ansteigen der Patientenzahlen im Herbst zu rechnen. Die Schwere der Verläufe und die Belastung der Intensivstationen hängen davon ab, wie gut der Immunschutz gegen die dann vorherrschende Variante in der Bevölkerung ist. Zur Bekämpfung leisten die angepassten Impfstoffe einen guten Beitrag.
Viele andere Krisen beschäftigen uns derzeit, etwa der Krieg in der Ukraine und die unsicherere Energieversorgung. Besteht die Gefahr, dass die Politik und die Bevölkerung beim Thema Corona nachlässiger werden?
Tatsächlich lässt das öffentliche Interesse nach, was natürlich auch damit zu tun hat, dass sich die Presse immer auf die aktuellsten Krisen stürzt. Außerdem haben die Lockerungen dazu geführt, dass die Corona-Pandemie ein wenig aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwunden ist. Die Politik vernachlässigt meiner Meinung jedoch nicht die COVID-19 Problematik. Im Gegenteil: Wir sind für den Fall, dass uns die Krise im Herbst möglicherweise wieder einholt, gut vorbereitet.
Die Schwere der Verläufe und die Belastung der Intensivstationen hängen davon ab, wie gut der Immunschutz gegen die dann vorherrschende Variante in der Bevölkerung ist.
Sind Impfungen nach wie vor die wichtigste Maßnahme zur Eindämmung des Coronavirus?
Diese Frage ist ohne Wenn und Aber mit ‚ja‘ zu beantworten. Die Impfung hat viele Menschenleben gerettet. Das wird auch in Zukunft so sein – sie ist die wichtigste Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie. Zudem werden uns in Zukunft immer neue Medikamente gegen COVID-19 zur Verfügung stehen, mit denen wir schwer erkrankte Personen behandeln können.
Eine weitere Maßnahme ist das Testen, wobei das anlasslose Testen kontrovers diskutiert wird. Was ist Ihrer Meinung nach eine sinnvolle Teststrategie?
Einen Test halte ich nur bei einem begründeten Verdacht für sinnvoll, beispielsweise bei ersten Symptomen, bei Begegnungen mit infizierten Personen oder nachdem man Teil einer großen Menschenansammlung war. Menschen, die in kritischen Bereichen wie beispielsweise im Gesundheitssystem arbeiten, sollten sich dagegen weiterhin regelmäßig testen. In diesen Fällen kann schließlich eine Ansteckung ernste Folgen für Patienten oder pflegebedürftige Menschen haben.
Richten wir den Blick noch weiter nach vorne. Weltweit schlummern zahllose Viren in Tieren, die auch Menschen infizieren können. Fürchten Sie, dass wir uns auf weitere Zoonosen und noch gefährlichere Pandemien einstellen müssen als die gegenwärtige Corona-Krise?
Wir wissen nicht, wann ein neuer pandemischer Erreger auftreten wird, aber es wird früher oder später passieren. Dabei können wir natürlich nicht ausschließen, dass ein neuer Erreger noch aggressiver als das SARS-CoV-2 Virus ist. Der Mensch wird immer mobiler und dringt immer tiefer in unbewohnte Gebiete vor – das leistet dieser Gefahr Vorschub. Daher ist es wichtig, gut vorbereitet zu sein. Wir müssen die Überwachung der Erregerlandschaft im Tierreich und beim Menschen intensivieren. Und natürlich bleibt die Suche nach wirksamen Medikamenten und Impfstoffen wichtig.
Denn während sich die Zoonosen-Forschung in der Vergangenheit hauptsächlich mit der Gesundheit von Mensch und Tier auseinandergesetzt hat, wurde in den letzten Jahren sehr deutlich, dass auch die Gesundheit der Umwelt eine große Rolle spielt.
Auf der Influenza-Tagung wollen die Teilnehmer eine verbesserte Zusammenarbeit in der Zoonosen-Forschung besprechen. Das klingt so, als ob es an dieser Stelle noch viel Nachholbedarf gibt…
Wir sind auf einem guten Weg, aber natürlich kann man die Zusammenarbeit immer verbessern. Unsere Konferenz fokussiert sich hauptsächlich auf die Zoonose Influenza, also auf Grippeviren. Wir werden beispielsweise die Vernetzung unseres nationalen ‚FluResearchNet‘ mit einem französischen Influenza Forschungsnetzwerk (‚ResaFlu‘) diskutieren.
In der ‚Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen‘ sind viele Wissenschaftler bereits gut vernetzt. Wie funktionieren die Zusammenarbeit und der Austausch?
Die ‚Nationale Forschungsplattform für Zoonosen‘, die an unserem Institut für Virologie in Münster koordiniert wird, ist ein Infrastruktur- und Service-Netzwerk, dem mittlerweile über 1.100 Wissenschaftler in Deutschland angehören. Wir haben einen internen Beirat, dem nicht nur Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, sondern auch Vertreter von Ministerien und des öffentlichen Gesundheitswesens angehören. So ist ein breiter Austausch möglich, etwa in Konferenzen, Nachwuchstreffen oder Workshops. Zudem entscheiden wir in einem transparenten Begutachtungsverfahren über die Vergabe von Fördermitteln, mit denen wir neue Forschungsprojekte und interdisziplinäre Zusammenarbeiten anstoßen.
Wird die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen zukünftig noch relevanter?
Davon bin ich überzeugt. Denn während sich die Zoonosen-Forschung in der Vergangenheit hauptsächlich mit der Gesundheit von Mensch und Tier auseinandergesetzt hat, wurde in den letzten Jahren sehr deutlich, dass auch die Gesundheit der Umwelt eine große Rolle spielt. Jede Störung der Balance zwischen diesen drei überlappenden Sektoren führt zu ernsthaften Problemen. ,One-Health‘ ist das entscheidende Stichwort: Wir wollen Experten etwa aus der Ökologie und der Umweltforschung einbinden, um in eine neue Förderphase der Zoonosen-Forschung einzutreten.