Serie "Kunst an der WWU": Zur Anarchie aufrufende Buchstaben
So richtig geheuer kann er dem Beobachter nicht sein, und Irritation ist vermutlich nur ein schwaches Wort angesichts dieses monumentalen Schriftzugs, der sich krakengleich um den Eingangsbereich der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster klammert. „GEHORCHE KEINEM“ dröhnt es dem Betrachter förmlich entgegen, in leuchtendem Rot, zwei Meter hoch und mit 28 Meter Gesamtlänge, bei Dunkelheit effektvoll beleuchtet, das Gebäude und den Betrachter machtvoll vereinnahmend.
Seit 2009 ist der Befehl Teil der Bibliothek, platziert hat ihn der iranisch-deutsche Künstler Babak Saed. Form und Inhalt des Schriftzuges offenbaren einen paradoxen Charakter: In klarer Befehlsform wird zum Ungehorsam aufgerufen. Neben seiner Monumentalität ist es gerade diese semantische Ambivalenz, die die Wirkung und den intellektuellen Charme des Kunstwerks ausmachen. Der Betrachter mag sich fragen, was denn nun von ihm verlangt wird: Gehorsam und Loyalität oder Anarchie und Selbstbestimmtheit? Teil dieser List, mehrdeutig zu sein, liegt auch in der Ortswahl der Installation. Nicht nur ist sie an einem prominenten Bauwerk einer großen Universität angebracht – einer Institution mit einem gleichermaßen üppigen wie notwendigen Regelwerk, mit Prüfungsordnungen und einer tradierten und sich nur wenig verändernden Hierarchie. Sie ist auch noch absichtsvoll über Eck auf die Fassade gesetzt. Kommt der Betrachter von Westen her, also aus Richtung Schloss, wird dieser zwingend zunächst nur des ersten Wortes „GEHORCHE“ gewahr und erfährt nur mit dem Blick um die Ecke, dass sich die Anweisung in ihr Gegenteil wendet.
Dieses Verwirrspiel löste vor nunmehr 13 Jahren große Aufregung in der Universitätsstadt Münster und weit darüber hinaus aus. Unibeschäftigte und Teile der Einwohnerschaft sahen einen ungeschlachten Aufruf zur Anarchie. Sie fürchteten um die Grundfesten von freiheitlich demokratischer Grundordnung, von Gotteslästerung war die Rede, Petitionen zur Entfernung des Kunstwerks machten die Runde. Diese klammen Reaktionen zogen ihre Kreise selbst in die bundesdeutsche Presse, die mit großem Interesse die lokale Stimmung einfing.
Hätte man sich von Anfang an differenziert und mit kühlem Kopf auf diesen geglückten Fall von Kunst am Bau eingelassen, wäre klargeworden, dass keineswegs revolutionäre Agitprop am Werke war, sondern vielmehr eine subtile, in hohem Maße ortsbezogene künstlerische Intervention. Ist doch gerade eine Universität und eine Bibliothek – als Wissens- und Gedankenspeicher – ein Ort, der erklärtermaßen zu selbstständigem, fundiertem und differenzierten Denken und Handeln ertüchtigen soll. Ein Ort, der blinden, ideologisierten Gehorsam und falsche Loyalitäten ablehnt, indem er zu Kritikfähigkeit und intellektueller Courage erzieht. Gerade mit Blick auf die jüngere deutsche Geschichte kein unwesentliches Motiv. Nicht umsonst sind Autokraten und Diktatoren Institutionen wie Universitäten und Kulturstätten stets ein Dorn im Auge.
So gesehen, vielleicht doch viel Lärm um nichts, dieser Aufruhr nach der Einweihung des Kunstwerks. Gerade wo eine seiner Qualitäten darin liegt, keine eindimensionale Botschaft zu senden, sondern zum Nachdenken anzustacheln und „erlernte Regeln in Frage zu stellen und durch deren Bruch Neues entstehen zu lassen“, wie der 1965 geborene Künstler erklärte. Babak Saed hätte leisere Töne anschlagen und zurückhaltende Worte nutzen können. Etwa im „sapere-aude“-Sinne von Horaz, wonach man es wagen solle, weise zu sein, oder entsprechend der philosophischen Aufforderung Immanuel Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Aber Babak Saed wollte wohl nicht einfach akademisch Verbürgtes von innen auf die Vorderseite spiegeln; offensichtlich ging es ihm darum, eigenständig, plakativ und zeitgenössisch einen künstlerischen Beitrag für eine offene Gesellschaft zu leisten.
Die Unruhe um den Schriftzug hat sich längst gelegt, der Rauch von hitzigen Diskussionen ist verflogen, und die Pressestelle hat schon lange keine Anrufe mehr wegen dieser schriftgewordenen Ketzerei verzeichnet. Eigentlich schade, aber vielleicht auch der Lauf der Dinge. „GEHORCHE KEINEM“ ist eins geworden mit dem Gebäude, zugezogene Studierende und Besucher werden dann und wann sicher noch eine Irritation verspüren, aber die meisten erfreuen sich vermutlich einfach nach einem langen und lernintensiven Tag spätabends des vitalen Rots und der besonderen Stimmung zwischen Haupt- und Nebengebäude. Es kommt eine Ruhe und Zufriedenheit auf, der Imperativ rückt in den Hintergrund, die Ästhetik erfasst Geist und Herz, die Rebellion macht für heute Feierabend.
Morgen ist auch noch ein Tag zum intelligenten Ungehorsam.
Autor: André Bednarz