"Kirchlicher Mitgliederstand wird sich bis 2060 halbieren"
Wenn in der Öffentlichkeit derzeit von der Kirche die Rede ist, dann werden vor allem die Missbrauchsfälle thematisiert, die Vertuschungsversuche der Kirchenoberen und die daraus resultierende Austrittswelle, die die Überlebensfähigkeit der Kirche infrage stellen. Abgesehen davon, dass für die hohen Austrittszahlen nicht allein der Missbrauchsskandal verantwortlich ist, sondern andere Faktoren wie religiöse Gleichgültigkeit, Entfremdung von der Lehre der Kirche und das Insistieren auf individuelle religiöse Selbstbestimmung gleichfalls eine Rolle spielen, wird die Bedeutung des Kirchenaustritts für die Instabilität des kirchlichen Mitgliederbestands in der Öffentlichkeit überschätzt. Eine ebenso große, wenn nicht größere Relevanz kommt der demografischen Entwicklung zu.
Um den Mitgliederbestand zu halten, müssten nicht nur die Verluste aufgrund von Austritten, sondern auch jene aufgrund von Sterbefällen durch Taufen und Eintritte kompensiert werden. Dazu sind die Kirchen schon seit den 1960er-Jahren nicht mehr in der Lage. 2020 belief sich die Zahl der Austritte sowohl aus der katholischen als auch aus der evangelischen Kirche auf jeweils etwas mehr als 200.000. Aufgrund von Sterbefällen verloren die beiden Kirchen im Jahr 2020 allerdings jeweils mehr als 300.000. Demgegenüber belief sich die Zahl der getauften Kinder 2020 in der evangelischen Kirche auf etwa 150.000 und bei den Katholiken sogar nur auf etwa 100.000.
Die darüber hinaus ins Auge zu fassende Zahl der Kircheneintritte liegt bei der evangelischen Kirche seit Jahren bei etwa 40.000 pro Jahr und überschreitet bei den Katholiken jährlich nicht 10.000. Den jährlichen Verlusten von etwa einer halben Million in jeder Kirche stehen damit Zuwächse von nicht mehr als 200.000 gegenüber. Die größten Verluste sind das Ergebnis der Sterbefälle. Dabei wird sich die Minderung des kirchlichen Mitgliederbestands fortsetzen und sogar beschleunigen, und das unabhängig davon, wie sich Austrittszahlen entwickeln. Der Grund dafür liegt in der im Vergleich zum Altersdurchschnitt der Gesamtbevölkerung hohen Überalterung der Mitglieder der Kirchen.
Die Kirche hat das Demografieproblem längst erkannt und thematisiert es vor allem unter finanziellen Gesichtspunkten. Eine von den Kirchen in Auftrag gegebene Analyse – die sogenannte Freiburger Studie – aus dem Jahr 2019 hat ergeben, dass sich der kirchliche Mitgliederstand und mit ihm die Finanzkraft der Kirchen bis 2060 in etwa halbiert haben wird. Je geringer die kirchlichen Steuereinnahmen, desto weniger Personal kann die Kirche einstellen, und desto weniger wird es möglich sein, die kirchliche Arbeit – vom Gottesdienst über die Kindertagesstätte bis zur Diakonie – aufrechtzuerhalten, was die Ausstrahlungskraft der Kirchen weiter einschränkt. Ein sich selbstreferenziell verstärkender Prozess der Minimierung zeichnet sich ab.
Doch ist das religiös oder theologisch gesehen überhaupt wichtig? Kommt es beim Glauben auf Zahlen an, oder zählt nicht einzig und allein die innere Einstellung? Ja, ist es unter theologischen und religiösen Gesichtspunkten nicht vielleicht sogar von Vorteil, wenn sich die Lauen von den Kirchen verbschieden und nur die in der Kirche bleiben, denen der Glaube wirklich etwas bedeutet? Heinrich Bedford-Strohm, der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof der Bayrischen Kirche, erklärte kürzlich, dass er den Verhältnissen der Volkskirche in früheren Jahrzehnten nicht hinterhertrauere, als viele Menschen nur aus Traditionsgründen Mitglieder der Kirche waren.
Aus einer religionsstatistischen Sicht vermag eine solche Haltung freilich kaum überzeugen. Der Landesbischof sollte ihnen hinterhertrauern, und zwar nicht nur aus religionssoziologischen Gründen, sondern auch aus Gründen des Glaubens selbst. Denn der Glaube – das zeigen viele empirische Untersuchungen – ist stabiler, wenn er von vielen geteilt wird; er bedarf der sozialen Unterstützung und der sozialen Vermittlung. Entscheidend ist dabei vor allem die Kindheit. Wer als Kind religiös erzogen wurde, weist eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit auf, auch als Erwachsener religiös zu sein. Menschen ohne eine in der Kindheit empfangene religiöse Prägung finden als Erwachsene nur selten zum Glauben. Doch die Weitergabe des Glaubens von einer Generation zur nächsten ist europaweit in der Krise.
Die generationellen Abbrüche sind für die Verkleinerung der Gemeinden ebenso wichtig wie die Kirchenaustritte, wenn nicht wichtiger. Am WWU-Exzellenzcluster „Religion und Politik: Dynamiken von Tradition und Innovation“ beschäftigt sich deswegen ein von der US-amerikanischen John Templeton Foundation gefördertes Projekt unter der Leitung von Christel Gärtner und Olaf Müller mit den Gründen für die Schwäche des generationellen Glaubenstransfers.
Die Missbrauchsfälle greifen den Kern der Kirche an, da sie die von der Kirche beanspruchte Heiligkeit infrage stellen. Wie einflussreich demografische und sozialisatorische Prozesse sind, ist weniger sichtbar, aber nicht weniger nachhaltig.
Dr. Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie am Institut für Soziologie und Teil des Exzellenzclusters „Religion und Politik: Dynamiken von Tradition und Innovation“ der WWU.