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Münster (upm/kk)
Wie müssen Lehrkräfte mit Kindern reden, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind? In einem Seminar an der WWU lernen Lehramtsstudierende richtige Kommunikationstechniken.<address>© AdobeStock</address>
Wie müssen Lehrkräfte mit Kindern reden, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind? In einem Seminar an der WWU lernen Lehramtsstudierende richtige Kommunikationstechniken.
© AdobeStock

Angehende Lehrkräfte lernen Umgang mit häuslicher Gewalt in der Schule

Seminar für Studierende mit WWU-Medizinerin / Experten befürchten hohe Dunkelziffern

Die Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik sind alarmierend: Im Jahr 2020 kamen 152 Kinder gewaltsam zu Tode, 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In weiteren 134 Fällen erfolgte ein Tötungsversuch. Mit 4.918 Fällen von Misshandlungen Schutzbefohlener registrierten die Beamten eine Zunahme um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr, seit 2018 sogar um 20 Prozent. Der Deutsche Kinderschutzbund befürchtet, dass durch die Coronapandemie eine hohe Dunkelziffer von Opfern häuslicher Gewalt hinzukommt.

Lehrerinnen und Lehrer sind oft die ersten Personen außerhalb der Familie, denen Anzeichen häuslicher Gewalt bei Kindern und Jugendlichen auffallen. Doch was dürfen oder müssen sie tun? Wie reden sie mit dem Kind, ohne es zu verängstigen? „Bei einem Unterrichtsbesuch vor einigen Monaten wurde das Thema Kinderrechte in der Klasse besprochen. Ein Junge sagte, dass es doch gar nicht erlaubt sei, dass er zu Hause geschlagen wird“, erinnert sich Anna Feldmann, die an der WWU Grundschullehramt studiert. „Ich war überrumpelt und wusste nicht, was ich sagen soll. Diese Ohnmacht war ein schlimmes Gefühl.“

Aus diesem Anlass tauschte sich die Studentin mit Prof. Dr. Bettina Pfleiderer aus. Sie leitet die Arbeitsgruppe „Cognition & Gender“ an der Medizinischen Fakultät der WWU und bietet für Studierende der Medizin regelmäßig ein klinisches Pflichtwahlfach zum Umgang mit häuslicher Gewalt an. „Das Thema ist auch für Lehramtsstudierende wichtig - deshalb war ich froh, dass Frau Pfleiderer bereit war, uns ein Seminar anzubieten“, sagt die 23-Jährige. Mit Philipp Schultes, Lehramtsbeauftragter des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA), gelang es ihr, in kürzester Zeit zahlreiche Studierende für den Kurs zu gewinnen. „Das Interesse und Engagement der Studierenden hat mich begeistert. Da das Thema so wichtig und mir ein Herzensanliegen ist, war ich gerne bereit, ein Seminar anzubieten“, betont Bettina Pfleiderer.

Sie konzipierte das Seminar mit der Psychologin Lisa Sondern – die Inhalte bauen zum Großteil auf der von der Europäischen Union geförderten online Trainingsplattform des EU-Projekts IMPRODOVA („Improving Frontline Responses to High Impact Domestic Violence“) auf, die Bettina Pfleiderer und ihr Team aufgebaut haben. In diesem EU-Projekt entwickelten die WWU-Wissenschaftlerinnen mit internationalen Partnern aus Forschung und Polizei Strategien und Materialien, um den Kampf gegen häusliche Gewalt effektiver zu gestalten. Diese Materialien stehen auf der Plattform nun allen Interessierten frei zur Verfügung.

An dem Theorieteil im Sommer 2021 nahmen etwa 80 Studierende teil und an dem Praxisseminar, das Anfang Februar als Zoom-Veranstaltung stattfand, 20 Personen. Den beiden Dozentinnen war es wichtig, die verschiedenen Arten häuslicher Gewalt zu vermitteln. „Es sind nicht immer nur die sichtbaren blauen Flecke. Neben der physischen – also körperlichen – Gewalt gibt es noch die psychische und sexuelle Gewalt sowie Vernachlässigungen. Als Lehrkraft muss man verschiedene Anzeichen und Indikatoren kennen, die Hinweise auf häusliche Gewalt sein können“, erklärt Bettina Pfleiderer. Das kann beispielsweise falsche oder unzureichende Ernährung, unangenehmen Geruch, Konzentrationsschwäche oder aggressives Verhalten beinhalten. Die Indikatorenliste ist sehr lang und kann bei jedem Kind, das häusliche Gewalt erfährt, anders aussehen.

Ein wesentlicher Teil des Seminars war das Kommunikationstraining. Die Studierenden erlernten anhand von praktischen Rollenspielen verschiedene Gesprächsführungstechniken und konkrete Hilfestellung für die Opfer und deren Eltern. „Die Übungen in den Kleingruppen waren für mich emotional sehr aufreibend. Wir nahmen jeweils die Rollen von Schülerinnen und Schülern beziehungsweise Eltern und Lehrkräften ein“, beschreibt Philipp Schultes den Perspektivwechsel. „Das Hineinversetzen in die Rollen war für mich nicht leicht. Als Lehrkraft hatte ich das Gefühl, bei den Gesprächen stets im Dunkeln zu tappen. Ich wusste nur, dass der Schüler häufiger mit blauen Flecken in die Schule kommt. Aber wie spricht man die Vermutung, dass Kinder häusliche Gewalt erfahren haben, gegenüber dem Betroffenen oder seinen Eltern an? Diese Situationen waren für mich mit Anspannung verbunden – eine Gratwanderung, die viel Fingerspitzengefühl erforderte. Zum Glück haben uns die Dozentinnen im Vorfeld hilfreiche Kommunikationsstrategien an die Hand gegeben.“

Wichtig für solche sensiblen und vertraulichen Gespräche sind unter anderem, dass die Lehrkraft passende örtliche und zeitliche Rahmenbedingungen schafft; dazu gehört zum Beispiel ein ruhiges und ungestörtes Umfeld. Die Gesprächsführung ist ebenfalls ein wichtiges Element. Fragen sollten zum Beispiel immer offen gestellt, Suggestiv- und Warum-Fragen hingegen vermieden werden. Auch das Paraphrasieren und das Reflektieren von Gefühlen sind wichtige Techniken, die die Studierenden lernten. „Das Ziel des Gesprächs ist nicht, dass sich der Schüler oder die Schülerin unmittelbar offenbart oder dass sofort etwas unternommen werden muss. Vielmehr sollten sie wissen, dass sie der Lehrkraft vertrauen können und diese Hilfe anbietet“, sagt Lisa Sondern.

Ob weitere Seminare zu dem Thema angeboten werden, ist vorerst offen. Seitens der Studierenden und des AStA ist das Interesse groß – doch leider ist es nicht so einfach. „Die Inhalte des Lehramtsstudiums sind über die jeweiligen Bundesländer vorgegeben. Der Fokus liegt auf dem Unterricht. Doch die Lehrer übernehmen im Alltag nicht nur diese Aufgabe, sondern haben auch eine Fürsorge- und Verantwortungspflicht“, betont Anna Feldmann. Ihr Kommilitone Philip Schultes ergänzt: „Es ist ein Dilemma. Denn die Liste von weiteren relevanten Themen neben dem Unterrichten ist sehr lang – sie umfasst beispielsweise Mobbing und sexualisierte Gewalt.“

Auch die beiden Dozentinnen befürworten eine Etablierung des Seminars. „Die Universität Münster hat über 10.000 Lehramtsstudierende. Wenn nur ein kleiner Teil davon im Umgang und in der Kommunikation mit Opfern häuslicher Gewalt geschult wird, wäre das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Diese Personen können im späteren Berufsleben als Multiplikatoren fungieren und das Kollegium sensibilisieren“, meint Bettina Pfleiderer.

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