"Wir müssen die Probleme offener angehen"
Soziale Sicherungssysteme erfordern einen hohen finanziellen Aufwand, der in jedem Fall durch die erwerbstätige Generation erwirtschaftet werden muss – unabhängig von der Art der Finanzierung durch Steuern oder Beiträge. Zur Verdeutlichung: Die gesetzliche Krankenversicherung hat jährlich Ausgaben von 250 Milliarden, die Rentenversicherung von 290 Milliarden Euro. Der Bundeshaushalt beläuft sich auf 500 Milliarden Euro, wovon 100 Milliarden Euro als Bundeszuschuss an die Rentenversicherung gehen und 28 Milliarden Euro an die gesetzliche Krankenversicherung – ohne Corona wären es nur 14,5 Milliarden Euro. Die Zahlen zeigen die Dimension und den begrenzten Spielraum für zusätzliche Belastungen auf.
Während 1950 16 Personen im Rentenalter 100 Personen im Erwerbsalter gegenüberstanden, entfielen 2019 auf 100 Personen im Alter von 20 bis 65 Jahren etwa 36 Personen im Alter ab 66 Jahren. „Ungebremst“ laufen wir in eine weiter steigende finanzielle Belastung hinein, die nicht mehr tragbar ist. Das betrifft alle Sozialversicherungssysteme, da höhere Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung bei einer alternden Bevölkerung unvermeidlich sind. Wir dürfen nicht länger über Leistungsverbesserungen nachdenken, sondern müssen uns auf eine Reform der Systeme konzentrieren, die die Finanzierbarkeit sichert.
Eine Systemumstellung vom bisherigen Umlage- auf ein Kapitaldeckungsverfahren bringt nichts, da es um die Wirtschaftskraft der erwerbstätigen Generation geht. Bei einer Umstellung würden die derzeit Erwerbstätigen, die ohnehin die demografischen Lasten tragen, zusätzlich belastet. Es steht vielmehr Feinarbeit im Sinne einer Verbesserung der Zielgenauigkeit an. Die steigende Lebenserwartung führt zur weiteren finanziellen Belastung der Rentenfinanzen. Deshalb müssen wir das Renteneintrittsalter der Lebenserwartung anpassen, also nach 2030 über die Altersgrenze von 67 hinausgehen.
Die skandinavischen Länder können uns dabei ein Vorbild sein: Dort setzt sich das System einer automatischen Anpassung der Altersgrenzen durch, wonach zwei zusätzliche Jahre der Lebenserwartung zu jeweils um ein Jahr erhöhten Renteneintrittsalter führen. In Deutschland müssen wir die Probleme offener angehen. Das haben uns die Skandinavier voraus.
Der Autor Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer ist Emeritus am Institut für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht (Abteilung II) der WWU.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 2. Februar 2022.