Ist Gleichheit gerecht?
Niels Petersen, Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie empirische Rechtsforschung an der Universität Münster, verantwortet das Projekt, das in den kommenden Jahren mit dem Consolidator Grant des European Research Council in Höhe von insgesamt 1,6 Millionen Euro gefördert wird.
Niels Petersen, geboren 1978 in Stade, machte die Gleichheit bereits bei seiner Antrittsvorlesung an der Universität Münster im Jahr 2016 zum Thema. Nachdem ihm das Potenzial, das in dem Thema steckt, immer klarer geworden war, beantragte er im Wintersemester 2017/18 einen Förderantrag und baute eine internationale Forschergruppe auf, die sich der Problematik annehmen sollte. „Das Thema ist für viele sehr attraktiv, gerade vor dem Hintergrund der persönlichen Lebensgeschichte“, erläutert er. „Bei uns sind sehr gute Bewerbungen eingegangen.“ Unter den Doktorandinnen, die zum Forschungsteam gehören, sind unter anderem eine Brasilianerin, eine Inderin, eine Polin, eine Liechtensteinerin und eine Äthiopierin. Für die Forschungen in verschiedenen Rechtsordnungen sind unter anderem spezielle Sprachkenntnisse erforderlich, denn das Team untersucht 16 verschiedene Jurisdiktionen auf allen Kontinenten, so die USA, Kanada, Brasilien, Kolumbien, Neuseeland, Indien, Taiwan, Südafrika, den Afrikanischen Menschengerichtshof, Deutschland, Polen, Spanien, das Vereinigte Königreich, Frankreich und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das Forschungsprojekt, das 2019 gestartet wurde, läuft noch bis 2024.
Was ist letztlich besser und gerechter? Wenn jeder völlig gleich oder jeder nach seinen Fähigkeiten behandelt wird? „Beispiel: Soll jeder dieselbe Steuersumme abführen, oder soll das nach Einkommen abgestuft geschehen, wie es in Deutschland üblich ist?“, führt Niels Petersen aus. „Eine andere, hochaktuelle Frage ist: Sollen Geimpfte Privilegien genießen, bevor alle Bürger die Möglichkeit gehabt haben, sich impfen zu lassen? Das sind schwierige Fragen, auf die nicht ohne weiteres sofort eine Antwort zu erhalten ist.“ Gerichte aber müssten sich solchen Fragen stellen. Die Antworten in den verschiedenen Ländern fallen nach Auskunft Niels Petersens sehr unterschiedlich aus. Die bisherige Forschung ergab, dass es dafür zwei grundsätzliche Modelle gibt. Nach dem einen Modell können die einzelnen Gerichte nach eigenem Gutdünken selbst entscheiden; Gleichheit wird als Einzelfallgerechtigkeit verstanden. „Der Vorteil ist, dass möglichst konkret geurteilt werden kann. Der Nachteil ist, dass die Gerichtsentscheidungen weit auseinandergehen und sehr unterschiedlich sein können“, erläutert der Professor.
Hauptbeispiel für ein Land, das ein solches Modell vertritt, ist Deutschland, aber auch in Polen und Frankreich, also in Kontinentaleuropa, ist es vorherrschend. Das entgegengesetzte Modell fragt danach, welche Gruppen besonders schutzbedürftig sind, weil sie wegen ihres Geschlechts, ihrer Religion oder Rasse diskriminiert werden. Es werden deswegen Unterscheidungen formuliert, die möglicherweise auf problematischen Kriterien beruhen. Hauptbeispiel für ein Land, das dieses Modell vertritt, sind die USA. „Dieses Modell, nach dem übrigens die meisten Länder auf der Welt vorgehen, lässt dem Gesetzgeber mehr Raum, hat aber den Nachteil, dass man Fälle, die im Einzelfall ungerecht erscheinen, häufig nicht korrigieren kann“, urteilt der Jurist. „Es wäre hingegen beispielsweise geeignet, der Frage nachzugehen, ob das heute noch gültige Ehegattensplitting, das darauf beruht, dass der Mann in der Regel mehr verdient als seine Ehefrau, zeitgemäß ist und nicht eine indirekte Diskriminierung von Frauen darstellt, weil es sie von einer Berufstätigkeit abschreckt.“ Von den Gerichten sei diese Frage noch nicht aufgegriffen worden, aber Klagen in dieser Richtung hält Petersen nicht für aussichtslos.
Was sind die Gründe für diese unterschiedlichen Modelle? Auch dieser Frage geht das Forschungsprojekt nach. „Die US-Rechtsprechung war seit den 70er Jahren sehr einflussreich, und das dürfte der Grund dafür sein, dass international das zweite Modell dominiert", meint Niels Petersen. Die deutsche Rechtsprechung habe sich dagegen viel früher entwickelt und verfestigt, so dass ein derartiger Einfluss nicht möglich gewesen sei. Auch lässt sich nicht klar formulieren, welches Modell von den beiden letztlich das bessere ist. Gleichheit und Gerechtigkeit sind große Begriffe, bei denen es schwierig ist, sie zu definieren. „Gleichheit herrscht, wenn Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird“, erläutert er. Aber was ist gleich oder ungleich? Müssen Geimpfte im Vergleich zu Nicht-Geimpften ungleich behandelt werden? Stellt man also auf den Fakt der Impfung ab oder darauf, dass wir grundsätzlich Bürger mit gleichen Rechten sind?
Ähnlich schwierig sind Gleichheitsfragen auf globaler Ebene zu beantworten. Daher stelle sich die globale Verteilung von Impfstoffen als schwierige Frage der Gerechtigkeit dar. „Es ist politisch klug, Impfstoff auf globaler Ebene gleich zu verteilen“, mahnt der Professor. Das konkrete Beispiel unterstreicht, dass die Ergebnisse des Forschungsprojekts durchaus für eine breitere Öffentlichkeit interessant sein könnten. Deshalb plant Niels Petersen, die Ergebnisse nicht nur in Form eines wissenschaftlichen Buches und entsprechender Aufsätze, sondern auch in einer populäreren Form zu veröffentlichen.
Autor: Gerd Felder
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 16. Juni 2021.