„Menschen in Afghanistan sind Gefangene ihrer eigenen Heimat“
Nach dem Einmarsch der Taliban in die afghanische Hauptstadt Kabul und der Flucht des Präsidenten Aschraf Ghani herrscht Chaos in dem Krisenstaat. Dr. Ahmad Milad Karimi, Professor für Kalām, Islamische Philosophie und Mystik an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, ist in Afghanistan geboren und floh als 13-Jähriger mit seiner Familie aufgrund des Bürgerkriegs aus seinem Heimatland. Im Gespräch mit Kathrin Nolte schildert Ahmad Milad Karimi die Situation in Afghanistan und die Konsequenzen, die durch die Machtübernahme der Taliban nun drohen.
Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in Afghanistan ein?
Die aktuelle Lage ist schlicht desaströs. Die Taliban haben die Hauptstadt Afghanistans erobert, kampflos erobert. Das Militär hat sich nicht zu einem Kampf entschlossen. Die Taliban werden die Rechte der Frauen missachten, Kultur, Kunst, Musik, aber auch Bildung zugrunde richten. Menschen in Afghanistan sind Gefangene ihrer eigenen Heimat.
Wie ist es um die Sicherheit der Bevölkerung bestellt?
Eine Sicherheit der Bevölkerung gibt es nicht mehr, kein Rechtsstaat, keine Kontrolle. Auf den Straßen von Kabul ist im Augenblick die Hölle los. Menschen zittern, Frauen sind in Häuser geflüchtet. Menschen, die aus anderen Regionen nach Kabul geflüchtet waren, um von dort aus ihre Flucht zu organisieren, stehen vor dem Nichts. Ortskräfte, die sich in den vergangenen 20 Jahren für den Aufbau des Landes engagiert haben, stehen auf der Todesliste der Taliban. Bei Weitem sind nicht alle diese Ortskräfte gerettet. Manche stehen nicht einmal auf der Liste der Evakuierung, die ohnehin viel zu spät angegangen wurde. Das ist unverantwortlich.
Ihr Geburtsort ist Kabul – was verbinden Sie persönlich mit Afghanistan?
Kabul ist mein Sehnsuchtsort, der Ort, dem ich verpflichtet bleibe. Bei mir bricht gerade erneut die Welt zusammen. Alle Mühen, die in den vergangenen Jahren etwas Hoffnung aufkommen ließen, wurden zerstört. Das ist eine außenpolitische Katastrophe, aber auch eine moralische und humanitäre Katastrophe.