Neues Verfahren zur molekularen Funktionalisierung von Oberflächen
Eine Vision beschäftigt Materialwissenschaftler: die Kombination von organischen Molekülen und der Vielfalt ihrer Funktionen mit den technologischen Möglichkeiten der hochentwickelten Halbleiterelektronik. Letztere „erschafft“ mit ihren modernen Methoden der Mikro- und Nanotechnologie immer effizientere elektronische Bauelemente für verschiedene Anwendungen. Sie stößt aber auch immer mehr an ihre physikalischen Grenzen. Beliebig kleine Strukturen zur Funktionalisierung von Halbleitermaterialien wie zum Beispiel Silizium lassen sich mit den Ansätzen der klassischen Technologie nicht herstellen. Wissenschaftler stellen in der Fachzeitschrift „Nature Chemistry“ nun einen neuen Ansatz vor. Sie zeigen, dass stabile und gut geordnete Molekül-Einzellagen auf Siliziumoberflächen hergestellt werden können – durch Selbstorganisation. Dazu nutzen sie N-heterozyklische Carbene. Dies sind kleine reaktive organische Ringmoleküle, deren Struktur und Eigenschaften vielfältig variieren und durch unterschiedliche „funktionelle“ Gruppen maßgeschneidert werden können.
An der Studie beteiligt waren Forscher um Prof. Dr. Mario Dähne (TU Berlin), Prof. Dr. Norbert Esser (TU Berlin und Leibniz-Institut für Analytische Wissenschaften), Prof. Dr. Frank Glorius (Westfälische Wilhelms-Universität (WWU) Münster), Dr. Conor Hogan (Institute of Structure of Matter, National Research Council of Italy, Rom) sowie Prof. Dr. Wolf Gero Schmidt (Universität Paderborn).
Technologische Miniaturisierung stößt an Grenzen
„Statt mit zunehmendem Aufwand immer kleinere Strukturen künstlich herstellen zu wollen, ist es naheliegend, von den molekularen Strukturen und Abläufen in der Natur zu lernen und deren Funktionalität mit der Halbleitertechnologie zusammenzuführen“, betont WWU-Chemiker Frank Glorius. „Dies wäre eine Art Schnittstelle zwischen der molekularen Funktion und der elektronischen Bedienoberfläche für technische Anwendungen.“ Die ultrakleinen Moleküle mit variabler Struktur und Funktionalität müssten dafür mit den Halbleiterbauelementen zusammengebracht werden, und zwar reproduzierbar, stabil und möglichst einfach.
Selbstorganisation der Moleküle nutzbar machen
Die Selbstorganisation der Moleküle auf einer Oberfläche, als Schnittstelle zum Bauelement, kann diese Aufgabe sehr gut leisten. Moleküle mit definierter Struktur können in großer Zahl auf Oberflächen aufgebracht werden und sich dort von selbst in einer gewünschten Struktur anordnen, vorgegeben durch die Moleküleigenschaften. „Das funktioniert beispielsweise gut auf Oberflächen von Metallen, bisher aber nicht zufriedenstellend für Halbleitermaterialien“, erläutert Physiker Norbert Esser. Denn um sich anordnen zu können, müssen die Moleküle auf der Oberfläche beweglich sein, also diffundieren. Das tun Moleküle auf Halbleiteroberflächen aber nicht. Vielmehr sind sie so stark an die Oberfläche gebunden, dass sie dort haften bleiben, wo sie einmal auf die Oberfläche getroffen sind.
N-heterozyklische Carbene als Lösung
Gleichzeitig beweglich und trotzdem stabil mit der Oberfläche verbunden zu sein, das ist das entscheidende Problem und gleichzeitig der Schlüssel zu möglichen Anwendungen. Und genau hier haben die Forscher nun eine mögliche Lösung parat: N-heterozyklische Carbene. Ihre Verwendung für die Oberflächenfunktionalisierung hat in den letzten zehn Jahren viel Interesse auf sich gezogen. Auf Oberflächen von Metallen wie zum Beispiel Gold, Silber und Kupfer haben sie sich als effektive Oberflächenliganden erwiesen, die anderen Molekülen oft überlegen sind. Ihre Wechselwirkung mit Halbleiteroberflächen ist jedoch bisher nahezu unerforscht.
Ausbildung einer regelmäßigen Molekülstruktur
Dafür, dass es jetzt erstmals gelungen ist, Molekül-Einzellagen auf Siliziumoberflächen herzustellen, sind bestimmte Eigenschaften der Carbene entscheidend: N-heterozyklische Carbene bilden zwar wie andere Moleküle auch sehr starke kovalente Bindungen zum Silizium aus und sind somit stabil gebunden. Durch Seitengruppen des Moleküls werden sie jedoch gleichzeitig „auf Abstand“ zum Silizium gehalten. So können sie noch ihren Platz auf der Oberfläche wechseln. Zwar kommen sie nur wenige Atomabstände weit, aber dies ist ausreichend, um auf der Oberfläche des regelmäßig strukturierten Siliziumkristalls eine fast ebenso regelmäßige Molekülstruktur auszubilden.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Mit einem komplementären Multimethodenansatz aus organisch-chemischer Synthese, Rastersondenmikroskopie, Photoelektronenspektroskopie und umfassenden Materialsimulationen klärten die Forscher in ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit das Prinzip dieser neuartigen chemischen Wechselwirkung auf. Sie demonstrierten zudem die Ausbildung von regelmäßigen Molekülstrukturen an einigen Beispielen. „Für die Funktionalisierung von Halbleitermaterialien, wie hier dem Silizium, wird damit ein neues Kapitel aufgeschlagen“, unterstreicht Physiker Dr. Martin Franz (TU Berlin), Erstautor der Studie.
Förderung
Die Studie erhielt finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, die Berliner Senatskanzlei Wissenschaft und Forschung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Höchstleistungsrechenzentren von Stuttgart, Paderborn und CINECA Italien (ISCRA initiative).
Originalpublikation
M. Franz, S. Chandola, M. Koy, R. Zielinski, H. Aldahhak, M. Das, M. Freitag, U. Gerstmann, D. Liebig, A. K. Hoffmann, M. Rosin, W. G. Schmidt, C. Hogan, F. Glorius, N. Esser, M. Dähne (2021), Controlled growth of ordered monolayers of N-heterocyclic carbenes on silicon. Nature Chemistry; DOI: 10.1038/s41557-021-00721-2