Sehnsucht nach normalem Leben
Freunde sind die Familie, die man sich aussuchen kann. Aber was, wenn man plötzlich keine Wahl mehr hat? Für die „WG 118“ am Horstmarer Landweg ist dieses Szenario, wie für viele andere Wohngemeinschaften seit dem Frühling 2020, aufgrund des coronabedingten Lockdowns Wirklichkeit geworden. Wir haben nachgefragt, was die Pandemie bis heute für ihr Zusammenleben, ihre Freundschaft und ihr Studium bedeutet. Ein Besuch.
Die erste, die mich beim Eintritt in die WG anlächelt, ist eine blonde Frau. Oberkörperfrei. Sie hält einen Fisch auf dem Arm und ist Model in einem Angel-Kalender. „Den Kalender hätten wir vielleicht abhängen können“, kommt es von links. „Hätten wir gar nicht“, ruft jemand aus der offenen Küche in den Flur. Nach fünf Minuten Treppen poltern, Flaschen öffnen – klassisch mit der Gabel – und Plätze suchen, sitzen alle sechs WG-Mitglieder der „WG 118“ um den kniehohen Holztisch vor der Balkontür, auf den kaum alle Liba-Flaschen und Kaffeetassen passen. Über ihren Köpfen hängt die regenbogenfarbene Geburtstagsgirlande für Mitbewohnerin Janne, die vor kurzem 21 geworden ist. Die große Party blieb natürlich aus. Janne studiert Geographie und ist die Gestaltungsexpertin der WG. Das Schild mit der Aufschrift „Schlüssel vergessen?“ und einem detailreich gezeichneten Schlüsselbund an der Wohnungstür ist von ihr.
Neben Janne wohnen in der WG: Lena, 23, Lebensmittelexpertin, die nach ihrem Bachelor in Oecothrophologie zum Sommersemester einen Master in Nachhaltiger Dienstleistungs- und Ernährungswirtschaft an der FH Münster anschließt. Caspar, 20, liebt die Musik, spielt Klarinette und studiert im vierten Semester Soziologie und Wirtschaft. Simon, 22, ist für die Unterhaltung und die WG-Kasse zuständig. Zu letzterem qualifiziert ihn sein Mathematikstudium. Kathi, 24, studiert auf Lehramt und ist aktuell im Praxissemester. Johannes, 24, bezeichnet sich als Fitness-Junkie und ist ebenfalls Lehramtsstudent. Er hat früher als Barkeeper gearbeitet – heute fährt er für Flaschenpost Getränke aus.
Johannes hätte gerne noch länger als Barkeeper gejobbt. Dann kam Corona. Nicht nur Johannes, auch zig andere Studenten haben seitdem ihre Nebenjobs verloren. Und was sich sonst durch die Pandemie in ihrem WG-Leben verändert? Der Öl- und Kräuterverbrauch sei aufgrund vermehrter Kochversuche stark gestiegen, meint Lena, die neben Caspar und Simon halb auf der Lehne des alten Ledersofas sitzt. Außerdem würden sie „viel mehr aufeinander hocken“. Alle nicken. Stress gebe es dadurch aber nicht, meinen sie.
Nur einmal mussten sie das erste Putz-Meeting der WG-Geschichte einberufen. Seitdem läuft´s. Und es ist endlich geregelt, wo die Knoblauchpresse gelagert wird. Lena schiebt das harmonische Miteinander der sechs vor allem auf die komfortable Wohnsituation. „Wir wohnen auf zwei Etagen und haben viel Platz. Wir können uns prima nach oben in unsere Zimmer zurückziehen und wieder rauskommen, wenn wir Lust auf Unterhaltung haben."
Alles muss, nichts kann.
Unterhaltung wird in der WG großgeschrieben. Eine Fotowand erzählt von längst vergangenen Partys mit ehemaligen Mitbewohnern. Auch die Fotos, die wir heute schießen, sollen als Erinnerung an die Wand. Da muss es natürlich etwas Besonderes sein. „Kriegen wir eine Pyramide hin?“, fragt Simon. Allgemeine Zustimmung. „Aber die Jungs nach unten“, kommandiert Lena. Die untere Reihe aus Johannes, Simon und Caspar ist schnell gebaut. Janne und Lena haben ebenfalls ihre Positionen eingenommen. Kathi hadert mit sich: „Das klappt nicht.“ Nach ermunternden Worten von Johannes („Komm Kathi, mach jetzt!“) versucht sie es doch und krönt einige Sekunden lang die WG-Pyramide. Das anspruchsvolle Erinnerungsfoto ist im Kasten.
Zeit für ernstere Themen. Zum Beispiel das Studieren in Corona-Zeiten. Das ist zurzeit überhaupt nicht spaßig und stellt gerade WG-Bewohner vor Herausforderungen. Neben technischen Problemen oder instabilen Internetverbindungen im eigenen Referat sind es vor allem die Online-Klausuren, die organisiert werden müssen. „Wenn wir Online-Prüfungen haben, darf niemand die Zimmertür öffnen, weil das als Täuschungsversuch gewertet werden kann“, erklärt Janne. „In einer Sechser-WG ist das natürlich schwierig, weil jeder mal eben schnell `was wissen will.“ Frei nach Kathis Motto „alles muss, nichts kann“, haben sie aber auch das in den Griff bekommen: durch Schilder an den Türen, die Janne gestaltet hat. „Und obwohl wir alle nicht wirklich Bock auf Zoom haben, motivieren die Mitbewohner zum Weitermachen“, betont Kathi. „Wir sitzen ja alle den ganzen Tag in Online-Vorlesungen.“
Einfach wieder andere Gesichter sehen.
Weitermachen galt auch fürs WG-Leben abseits der Uni – nur anders eben. Auch das ist an der Fotowand zu sehen. Da war das Iglu, das Janne fast alleine gebaut und in dem sie sogar geschlafen hat. „Das war auch nur ein bisschen kalt“, sagt sie. „Das war auch nur ein bisschen krank“, sagt Kathi. Und das Krimi-Dinner, das sie veranstaltet haben – Johannes war der Mörder. Oder ein Gruppenfoto vom Mini-Oktoberfest in der WG, auf dem sie sich in Dirndl und Lederhose zuprosten. Worin besteht der Unterschied zu den Fotos, die aus der Zeit vor der Pandemie an der Wand hängen? Es sind die Menschen. Auf den Fotos sind sie nun meistens zu sechst oder weniger – ihre Freunde fehlen dagegen. Die großen WG-Abende mit der Badewanne voller Dosenbier sind in weite Ferne gerückt.
Doch die WG-Partys sind nicht das erste, was sie machen würden, wenn die Pandemie morgen vorbei wäre und niemand mehr Corona hätte. Sie wollen raus aus der WG. Zurück ins normale Leben. Janne würde schnellstmöglich ihre Freunde aus ihrer Heimatstadt Lübeck treffen, die sie schon ihr Leben lang kennt. Simon würde endlich wieder Volleyball mit seiner Mannschaft spielen und am Hawerkamp feiern. Kathi und Lena vermissen es, sich mit Freunden im Café zu treffen und durch die Altstadt zu ziehen. „Einfach wieder andere Gesichter sehen.“ Caspar macht die Musik ohne seine Freunde auch keinen Spaß. Johannes fragt, wie klischeehaft es wäre, jetzt das Thema Fitnessstudio anzuschneiden…
Da er nicht der Einzige war, der sportlich kürzertreten musste, verwandelten die sechs kurzerhand ihren Keller in ein Fitnessstudio. Der Raum, den sie als Abstellkammer nutzen, quillt vor Krempel und Kisten über. Eine Schaufensterpuppe ohne Arm starrt Besucher aus einer Ecke an. Ein Panoramabild der New Yorker Skyline ist dekorativ auf etlichen Umzugskartons drapiert. Mitten in diesem Chaos befindet sich aber eine freigeräumte Fläche, auf der ein Fitnessturm, zwei Yogamatten und ein paar Gewichte liegen. Für Yoga-Übungen sei es zwar manchmal zu kalt, sagt Johannes „aber für Krafttraining reicht's."
Irgendwas nimmt man immer mit aus solchen Situationen.
Zurück im Wohnzimmer bei der nächsten Tasse Kaffee und dem ersten Bier stellen die sechs fest, dass sie es eigentlich echt gut haben in ihrer WG. „Man merkt zwar, dass die Corona-Maßnahmen nicht für Wohngemeinschaften gemacht sind, zum Beispiel bei den Kontakten. Ich bin trotzdem froh, den Lockdown mit den Anderen zu verbringen“, sagt Kathi. So habe man die Gewissheit, dass immer jemand da ist. „Wenn ich alleine wohnen würde, wäre ich wahrscheinlich wieder zu meinen Eltern gezogen, um nicht einsam zu sein“, ergänzt Janne. „Als WG hat uns das zusammengeschweißt. Ohne Corona hätten wir uns nie so schnell und intensiv kennengelernt“, meint Simon. Er und Caspar sind erst während des Lockdowns in die WG gezogen. „Irgendwas nimmt man immer mit aus solchen Situationen“, fasst Kathi zusammen.
Mittlerweile hat Simon seine Zauberkarten geholt. Nach zehnminütiger Vorbereitung ist es soweit. Ich soll aus dem Bauch heraus entscheiden, ob die jeweilige Karte, die er mir verdeckt zeigt, rot oder schwarz ist. So geht das eine ganze Weile, bis das ganze „Deck“ schließlich umgedreht in zwei Reihen auf dem Tisch liegt. „Eine Trefferquote von 60 Prozent wäre gut“, dämpft Simon kurz vor Auflösung die Erwartungen. Doch es klappt. Vor uns liegen sauber sortiert rote und schwarze Karten.
Beim kommenden Cocktailabend in der WG wird Simon sicher ebenfalls mit seinen Zaubertricks begeistern. Denn der kommt bestimmt – aber natürlich ohne großes Publikum.
Wer nicht das Glück hat mit anderen in einer Wohngemeinschaft zu leben, kann den untenstehenden Link zur Initiative "Zusammen ist man weniger allein!" der WWU nutzen. Dort macht die WWU digitale Formate zur Gestaltung von Interaktion zwischen Studierenden zugänglich. Studierende, die das Gefühl haben mit der aktuellen Situation nicht mehr zurecht zu kommen, sich einsam und isoliert fühlen oder Tipps zum Umgang mit der Pandemie brauchen, können sich an die Psychologische Beratung der Zentralen Studienberatung oder an die Experten von der Psychotherapie-Ambulanz am Fachbereich Sport und Psychologie wenden und weitere Angebote nutzen.
Der Besuch in der WG fand im Einklang mit den zu dieser Zeit geltenden Schutz-und Hygienemaßnahmen statt.
Autorin: Jana Haack
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, April 2021.