Tontafeln verraten Herrschaftsstile
So manche antike Tontafel, mit der Prof. Dr. Kristin Kleber arbeitet, sieht so aus, als wäre ein Huhn über feuchten Ton gelaufen. Das ist der Blick der Laien. Für die Altorientalistin der Universität Münster sind es dagegen wichtige Quellen, die über das Leben und Denken der ersten Hochkulturen der Menschheit Auskunft geben. Es ist vor allem die kulturelle und sprachliche Fülle, die sie daran begeistert. „Der alte Orient hat eine 3000-jährige Geschichte“, unterstreicht Kristin Kleber. „Ein großer Teil der Textquellen ist noch unerforscht.“ Bei Ausgrabungen in den Ländern des Vorderen Orients würden immer wieder Tontafeln gefunden. „Zuweilen erschließt ein neues Archiv eine Region oder Aspekte, von denen wir zuvor keine Ahnung hatten.“
„Governance in Babylon: Negotiating the Rule of Three Empires“ (GoviB) lautet der Titel ihres Projekts, für das sie der Europäische Forschungsrat mit einem „Consolidator Grant“ beziehungsweise mit rund zwei Millionen Euro für die kommenden fünf Jahre ausgestattet hat. Oder anders formuliert: Wie funktionierte das Regieren in der Phase vom 8. bis zum 4. Jahrhundert vor Christus, einer Zeit, in der Babylonien zwei Regimewechsel und drei Imperien erlebte?
Kristin Klebers Quellen lassen sich allerdings nicht lesen wie eine Zeitung, zumal die Tafeln oft Beschädigungen aufweisen. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich mit Texten aus dem ersten Jahrtausend v. Chr., dem Zeitalter der Imperien. Je nach Textgattung würden ungefähr 150 bis 600 verschiedene Wort- und Silbenzeichen verwendet, von denen viele auch noch mehrdeutig seien. „Die richtige Lesung erschließt sich aus bestimmten Regeln und dem Kontext.“
Hauptsächlich hat es die Forscherin mit den Sprachen Sumerisch und Akkadisch zu tun. „Sumerisch als erste geschriebene Sprache der Menschheit starb um 2000 v. Chr. aus“, erläutert sie. „Wie Latein im Mittelalter wurde es aber weiter tradiert. Akkadisch verstehen wir als eine semitische Sprache – wie Arabisch und Hebräisch – ganz gut.“ Für ihre Edition erstellt sie zunächst eine Umschrift der Keilschriftzeichen in unser lateinisches Alphabet. „Dann übersetzen wir und kommentieren schwierige Passagen.“ Danach kann die Auswertung des Inhalts beginnen.
Kristin Klebers Augenmerk liegt auf Rechts- und Verwaltungsurkunden sowie Briefen. „Diese Dokumente geben Aufschluss über soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten, indirekt über königliche Erlasse und Steuern, über bestimmte Familien, die hohe Ämter in der lokalen Verwaltung oder im Tempel innehatten, und deren Beziehungen zur königlichen Verwaltung.“ Insbesondere bei Priesterarchiven seien Alltagstexte mit Bibliothekstexten gemischt. Diese religiösen, literarischen und wissenschaftlichen Werke zeigten, welche Lebensgrundsätze und Anschauungen verbreitet waren. Der Erhaltungszustand der Tafeln ist dabei sehr unterschiedlich.
Leider habe es seit dem zweiten Golfkrieg vermehrt illegale Raubgrabungen gegeben. Dieses Material tauche häufig auf dem Kunstmarkt in Europa, den USA, Israel und Japan auf. Die archäologischen Kontexte solcher Objekte seien für immer verloren, bedauert Kristin Kleber. „Ursprünglich zusammengehörige Textgruppen, etwa antike Archive oder Bibliotheken, wurden über die ganze Welt verstreut.“ Die Texte für ihr aktuelles Projekt stammen aus legalen Grabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft (DOG) in Babylon. „Durch sogenannte Fundteilungsabkommen liegen die meisten von ihnen heute im Vorderasiatischen Museum in Berlin. Einige befinden sich in Istanbul, andere sind verschollen.“
Die GoviB-Edition bildet die empirische Basis für ihr Projekt. Konkret erhofft sie sich Aufschlüsse über die zwei Regimewechsel, die Babylonien rund um die Mitte des ersten Jahrtausends erlebt hat. Die Politik der drei Imperien war der Wissenschaftlerin zufolge sehr unterschiedlich. „Ich möchte herausfinden, welche Wechselwirkungen zwischen der Regierung und der lokalen Bevölkerung entstanden, insbesondere zu welchen Anpassungsreaktionen es auf beiden Seiten kam.“ Herrschaft sei nicht immer absolut und despotisch gewesen. „Lokale Gruppen hatten Handlungsspielräume. Sie konnten die imperiale Macht vielleicht nicht verhindern, aber ihr gewaltige Steine in den Weg legen.“ Daher interessiert sie sich auch für das Spannungsfeld zwischen nutzenorientiertem Handeln und dem Festhalten an einer traditionellen lokalen Identität. „Wir haben in Europa ein ähnliches Problem. Wir kommen aus einer nationalstaatlichen Tradition, sind aber in der Europäischen Union vereint.“
Die Tafeln für das Projekt wurden zwischen 1899 und 1917 ausgegraben. Erst 2005 publizierte Olof Pedersén einen Katalog der Babylon-Texte - „ein Meilenstein“, betont Kristin Kleber. Ein kürzlich abgeschlossenes Pilotprojekt der FU Berlin, des Vorderasiatischen Museums und der DOG ordnete das Babylon-Material und digitalisierte die Ausgrabungsdokumentation. Insgesamt gehe es um ungefähr 30.000 Objekte, plus Karten, Pläne, Fundjournale, Tagebücher und Packlisten. „Die Babylon-Forschung wird unser Fach in Deutschland und international in den nächsten Jahrzehnten prägen.“
Auch die neuen Erkenntnisse aus Münster werden digitalisiert und frei zugänglich online verfügbar sein. „Das Rektorat und die Fachbereiche Geschichte und Philosophie sowie Philologie haben kürzlich eine Initiative von sechs altertumswissenschaftlichen ,kleinen‘ Fächern für den Aufbau eines 3D-Labors unterstützt“, berichtet die Professorin. Zusätzlich zu den Tontafeln samt Umschriften und Übersetzungen sollen auch Fundkontexte in 3D-Modellen rekonstruiert werden, beispielsweise Privathäuser und Tempel in Babylon.
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 27. Januar 2021.