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Münster (upm/jah)
Beste Fernsicht ist an klaren Tagen vom Dach des Gebäudes aus möglich.© WWU - Peter Leßmann
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Arbeit mit Aussicht

Teil 6 der Serie über besondere Gebäude an der WWU: Im Physikalischen Institut treffen 1970er-Jahre auf moderne Technik

Die letzten Meter bis aufs Dach der Physiker der „Institutsgruppe I“ (IG1) muss man zu Fuß über das Treppenhaus Süd bewältigen – die beiden Aufzüge aus dem Jahr 1975 fahren nur bis in den 7. Stock. Oben angekommen, wird man auf dem höchsten Gebäude der WWU mit einem wunderbaren Ausblick belohnt, der im Westen bis zu den Baumbergen und im Norden bis zu den Ausläufern des Teutoburger Walds reicht. „Würden die Wolken nicht so tief stehen“, meint der Hausverantwortliche Dr. Andreas Gorschlüter an diesem eher trüben Tag, „könnte man sogar das Steinkohlekraftwerk in Ibbenbüren sehen.“ Heute bedarf es zumindest etwas Fantasie, um von der Wilhelm-Klemm-Straße unweit des Coesfelder Kreuzes den aufsteigenden Rauch aus dem Schlot des Kraftwerks zu erkennen.

Umrundet man einen kleinen Aufbau auf dem kiesbedeckten Flachdach, in dem Wissenschaftler des ehemaligen Instituts für Astronomie früher Kometen beobachtet und übernachtet haben, blickt man geradewegs über das knallblaue Geländer auf das Hochhaus der WWU-Mathematiker in der Einsteinstraße, das mit 35 Metern nur fünf Meter kleiner als die IG I ist. Doch so schön der Ausblick über die roten Dächer Münsters und die vielen Kirchtürme auch ist – zu dieser Jahreszeit zwingt der pfeifende Wind jeden Gast schnell zurück ins Treppenhaus. Egal, denn auch im schnöden Treppenhaus haben sich interessante Dinge ereignet. Immerhin, betont Andreas Gorschlüter, wurde in diesem Treppenhaus vor zwölf Jahren eine besondere Initiative gestartet. Beim „1. WWU Run up“ – einem Treppenlauf, mit dem die Initiatoren auf die Energieverschwendung durchs Fahrstuhlfahren aufmerksam machen wollten – soll ein Student die 186 Stufen in weniger als 32 Sekunden hochgerannt sein. Dieser Rekord gilt bis heute. Schon damals hat dem Studenten vermutlich die große blaue Sieben am orangenen Treppenausgang verraten, dass er kurz vor dem Ziel war. Ein abschätzender Blick nach draußen konnte es jedenfalls nicht gewesen sein, denn Fenster gibt es nur im Treppenhaus Nord. Auch sonst gibt es außer den menschengroß an die Betonwände gemalten Stockwerkszahlen nicht viel, was die Orientierung im Gebäude erleichtert. Egal auf welcher Etage man das Treppenhaus verlässt, der Blick bleibt immer gleich: Beton und die im Baujahr 1975 angesagten Farben Orange und Blau prägen das Bild. Auf jeweils zwei Fluren links und rechts des Treppenhauses verraten nur die leuchtenden Warnschilder mit der Aufschrift „Laser“, ob sich hinter einer der circa 15 Türen zu jeder Seite physikalische Geräte oder Büros verbergen. Bis zu 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben hier ihren Arbeitsplatz. Eine Ausnahme macht nur der fünfte Stock, der gerade renoviert wird.

In einem Punkt unterscheiden sich die Stockwerke allerdings voneinander – es ist ihre Höhe über dem Boden, weshalb die Verteilung der fünf Institute im Gebäude nicht ganz zufällig erfolgte. Im obersten Stockwerk sind das Institut für die Didaktik der Physik und das Institut für Festkörpertheorie untergebracht; in der Ebene darunter befindet sich das Institut für Materialphysik. Den Rest der IG I belegen überwiegend das größte Institut der Physik, das Physikalische Institut, und das Institut für Planetologie. „Die Didaktik der Physik und das Institut für Festkörpertheorie sind in ihrer Forschung am wenigsten von den Schwingungen im Gebäude betroffen“, erläutert Andreas Gorschlüter. Für eine genaue Messung mit physikalischen Geräten, die sogar Strukturen von einem millionstel Millimeter registrieren und analysieren, sind selbst kleinste Vibrationen im Labor nicht zu gebrauchen.

Da jedoch nicht alle Forscher auf separat gelagerten Beton-Fundamenten im Keller arbeiten können, behelfen sich vor allem die Wissenschaftler, die in ihren Experimenten Laserlicht einsetzen, mit speziellen Tischen. Sie können Stöße und Schwingungen des Bodens abfedern. Nachteil: Sie sind groß und schwer. Einige der modernsten Geräte, mit denen die Physiker die Rätsel der Natur entschlüsseln, benötigen so große und schwere Lasertische, dass sie nicht mehr in den Lastenaufzug der IG I passen. „In solchen Fällen mussten wir die Tische mit einem Kran über die Fenster in die entsprechenden Labore befördern“, erinnert sich Andreas Gorschlüter.

Während in den oberen Stockwerken die Forschung dominiert, stehen die unteren beiden Etagen ganz im Zeichen der Lehre. Hier befinden sich neben den meisten Seminarräumen die beiden achteckig aufgebauten Hörsäle, in denen Vorlesungen nicht nur für Studierende der Physik, sondern auch für zahlreiche andere naturwissenschaftliche und medizinische Fächer stattfinden. Bis zu 1.000 Studierende tummeln sich normalerweise in der IG I – aktuell herrscht in dem großen Hörsaal 1 mit seinen aufsteigenden Sitzreihen gespenstische Stille. Auch hier dominiert der frei sichtbare Beton an den Wänden. So stark, dass eine Architektur-Studentin einst überprüfte, ob es sich um ein Werk des sogenannten Spätbrutalismus handelt.

Allerdings sind die Tage des 1970er-Jahre-Baus ohnehin gezählt. Die Planungen für einen Neubau laufen bereits auf Hochtouren, und die umgedrehte Pyramide „Square Depression“ des Künstlers Bruce Nauman aus – wie könnte es anders sein – Beton ist bereits abgerissen. Die Hausmeister haben sich für ihre zukünftige Wirkungsstätte bereits etwas ausgedacht. Als eine spezielle Variante von „Kunst am Bau“ haben sie sich darum bemüht, die Ecken des Kunstwerks zu erhalten. Nun möchten Sie dem Architekten des IG 1-Neubaus vorschlagen, die Stücke bei der Gestaltung des neuen Gebäudes zu berücksichtigen. „Ob das klappt, hängt natürlich letztendlich vom Architekten und Bauherrn ab“, gibt sich Hausmeister Christian Möller realistisch. „Aber man darf es sich ja zumindest wünschen.“

Autorin: Jana Haack

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 16. Dezember 2020.

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