Fische unter Strom
Groppe, Steinbeißer oder Bachforelle sind nur noch selten anzutreffende Fischarten in der Münsterschen Aa. Der Zustand des 43 Kilometer langen Flusses ist schon seit vielen Jahren schlecht und durch Begradigung, Landentwässerung, Stauhaltungen, Landwirtschaft sowie Abwassereinträge geprägt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) wollen es genauer wissen und untersuchen im Rahmen eines von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt geförderten Projekts, unter der Leitung von Prof. Dr. Tillmann Buttschardt vom Institut für Landschaftsökologie, den hydrochemischen und biologischen Gewässerzustand der Aa.
Die Experten für Gewässerökologie sind in den letzten Jahren dutzende Male an zahlreiche Standorte in dem 172 Quadratkilometer großen Einzugsgebiet der Aa gefahren, um Daten zu erheben. Dabei kartieren sie Fischbestände und Makrozoobenthos – dazu gehören kleine tierische Organismen wie etwa Krebse oder Muscheln. In einem Teil des Projekts, das Prof. Dr. Christine Achten aus der Angewandten Geologie der WWU leitet, werden auch spezielle gewässerchemische Parameter, etwa Spuren von Pestiziden oder Medikamentenrückstände, erfasst.
Um Vielfalt, Altersstruktur und Anzahl der Fische zu bestimmen, führen die Wissenschaftler eine Elektro-Befischung durch, die die sogenannte untere Naturschutzbehörde jeweils genehmigt. Dabei leitet ein Elektrofanggerät einen Impulsstrom von bis zu sechs Ampere durch das Wasser. Fische, die sich im Stromfeld befinden, schwimmen zur Anode und werden mit einem Kescher eingesammelt, bestimmt und vermessen. „Es handelt sich um eine sehr schonende Art des Fischfangs. Die Fische werden nur wenige Sekunden narkotisiert und schwimmen nach der Untersuchung weiter“, erklärt Projektmitarbeiter Patrick Günner vom Institut für Landschaftsökologie.
Die Befischungen finden im Frühjahr und im Herbst statt, da die Aa zu diesen Zeitpunkten ausreichend Wasser führt, die Wassertemperatur nicht zu hoch ist und die Fische damit keinem zusätzlichen Stress ausgesetzt werden. „Diesen Herbst fischen wir das letzte Mal in der Aa. Danach folgt die Datenanalyse, bei der wir alle Werte miteinander vergleichen und das Zusammenspiel des chemischen und ökologischen Zustandes bewerten“, sagt Landschaftsökologie-Student Michel Harre. „Heute haben wir auf einer Strecke von 400 Metern mehr als 500 Fische gefangen – darunter typische Arten für norddeutsche Tieflandbäche, zu der auch die Aa gehört, wie etwa Rotauge und Hasel. Wir haben aber auch Bitterlinge und Groppen gefunden. Diese Arten sind eher selten für die Aa und stehen unter Naturschutz“, ergänzt Kommilitonin Sam Lucy Behle.
„Die Ergebnisse helfen bei der Entwicklung eines Entscheidungs-Unterstützungssystems auf Einzugsgebietsebene für die Wasserpolitik. Dazu gehört ein integriertes Konzept mit passgenauen Maßnahmen zum Schutz und zur Bewirtschaftung der Aa und ihren Nebenflüssen“, sagt Tillmann Buttschardt, Leiter der Arbeitsgruppe Angewandte Landschaftsökologie und Ökologische Planung.
Bereits Mitte der 1980er Jahre machten Experten sich erstmals Gedanken zur Renaturierung von Fließgewässern. Doch erst mit dem Inkrafttreten der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) im Jahr 2000 wurde ein rechtlicher Rahmen für die Wasserpolitik geschaffen. Für die Aa als „künstlicher und erheblich veränderter Wasserkörper“ bedeutet das, dass bis zum Jahr 2027 das „gute ökologische Potenzial“ erreicht werden muss.
Dieses Ziel ist nach Einschätzung der Wissenschaftler in den kommenden sieben Jahren nur sehr schwer – wenn nicht unmöglich – zu erreichen. Stoffliche Einträge, etwa Stickstoff und Phosphor, belasten regelmäßig die Gewässer im Einzugsgebiet der Aa. Zudem weisen viele Gewässer strukturelle Defizite auf, die dazu führen, dass verschiedene Arten der fließgewässertypischen Lebensgemeinschaften nicht die erforderlichen Bedingungen für eine dauerhafte Besiedlung vorfinden.
„Der Druck steigt, Gewässer wieder in ihre naturnahen Zustände zu überführen, um die Ziele der WRRL zu erreichen“, ist sich Carsten Bohn von der Arbeitsgemeinschaft Wasser- und Bodenverbände Westfalen-Lippe und Praxispartner im Projekt sicher. „Die Interessen zwischen Naturschutz, Siedlungswasserwirtschaft, Landwirtschaft und Hochwasserschutz sind nicht leicht in Einklang zu bringen – vor allem das agrar-geprägte Münsterland ist wirtschaftlich auf Acker- und Grünlandflächen angewiesen. Die Maßnahmen müssen daher mit allen beteiligten Akteuren partizipativ erarbeitet werden“, ergänzt Tillmann Buttschardt, der sich seit vielen Jahren mit der ökologischen Umwelt- und Gewässerplanung beschäftigt.
„Bei der Maßnahmenplanung berücksichtigen wir das sogenannte Strahlwirkungs- und Trittstein-Konzept. ‚Strahlursprünge und Trittsteine‘ beschreiben naturnahe Teilbereiche und strukturelle Elemente eines Gewässers zur Förderung der Biotopvernetzung, welches das Überleben von Tier- und Pflanzenarten sichert“, sagt Carsten Bohn.
Wie das aussehen kann, zeigen Beispiele für Renaturierungsmaßnahmen in der Stadt Münster: Sowohl der Verlauf der Aa entlang der Kanalstraße zwischen Lublinring und Nevinghoff als auch der Abschnitt an der Westerholtschen Wiese fließen seit einigen Jahren wieder in einem kurvenreichen und naturnahen Bachbett. Kiesschüttungen, Sandbänke und Totholz dienen Fischen und anderen Lebewesen als naturnahe Habitate. Ähnlich gestaltet sich eine Maßnahme in Hohenholte, die von der Arbeitsgemeinschaft Wasser- und Bodenverbände Westfalen-Lippe geplant und bei der baulichen Umsetzung begleitet wird. Hier erfolgt auf einer Länge von mehr als einem Kilometer unter anderem die Neutrassierung des Gewässerverlaufes, die Anlage einer Sekundäraue und der Einbau von Totholz und Kies.
„Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse des Monitorings, da diese Maßnahme von Beginn an wissenschaftlich durch das Institut für Landschaftsökologie begleitet wurde“, freut sich Carsten Bohn. Wie sich diese Maßnahmen auf Fischpopulationen, Wasserqualität und Hochwasserschutz auswirken, können die Experten jedoch erst in einigen Jahren beantworten.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 11. November 2020.