Vergessenen NS-Opfern eine Stimme geben
Als kleines Mädchen verschleppten die Nationalsozialisten Tamara im Jahr 1943. Die deutschen Besatzer hatten zuvor ihre Eltern ermordet. Nach der Unterbringung in Kinderheimen in der Westukraine und im Warthegau nahm eine Pflegefamilie die 1936 geborene Tamara auf. Die Pflegeeltern Emma und Oskar waren aus Leipzig stammende Ostsiedler, die nun in Kalisch im neuen „Reichsgau Wartheland“ lebten. Man sagte ihnen, Tamara sei ein deutsches Waisenkind aus Odessa in der Ukraine, dessen Eltern von den Russen erschossen worden seien – eine übliche Lüge zur Vertuschung des Kinderraubs.
So wie Tamara erging es im Zweiten Weltkrieg zahlreichen Kindern aus Böhmen, Mähren, Weißrussland, der Ukraine und Slowenien. Die organisierte „Kindeswegnahme“ und „Zwangseindeutschung“ waren ein zentrales Element der nationalsozialistischen Rassenpolitik von 1939 bis 1945. „Die geraubten Kinder sind bis heute eine vergessene Opfergruppe“, erläutert Dr. Isabel Heinemann, Professorin für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). In einem Forschungsprojekt untersucht die Historikerin die Migrations- und Lebenswege dieser Kinder. Nach ihren Schätzungen erlitten 20.000 polnische Kinder, 20.000 zwangsgermanisierte Kinder aus der Sowjetunion und 10.000 Kinder aus West- und Südeuropa dieses Schicksal. „Die damaligen Kinder und heutigen Erwachsenen möchten wissen, woher sie stammen“, betont Isabel Heinemann. „Nicht jedes Schicksal können wir aufklären. Denn die Namen wurden geändert, und die Identitäten sind unklar.“
Die Zwangseindeutschung vermeintlich „rassisch hochwertiger“ Kinder
Kurz nach dem deutschen Angriff auf Polen erklärte der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler in seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, dass er eine „Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse“ Europas durch Vertreibungen und Neuansiedlungen plane. Die Details ließ Heinrich Himmler, Chef der Schutzstaffel (SS), im sogenannten „Generalplan Ost“ regeln. Hierzu gehörte auch die „Jagd auf gutes Blut“, die Zwangseindeutschung vermeintlich „rassisch hochwertiger“ Kinder, welche die SS gewaltsam aus ihren Familien riss. Waisen und Kinder wie Tamara, deren Eltern als „Partisanen“ ermordet worden waren, gerieten besonders in den Fokus. Die jüngeren Kinder wurden SS-Familien zur Adoption angeboten, die älteren sollten in sogenannten deutschen Heimschulen erzogen werden. Ihre Identitäten verschleierte die SS bewusst und gab sie als „deutsche Kinder“ aus.
Nach Kriegsende wurden einige dieser Kinder in den westlichen Besatzungszonen registriert – in der sogenannten Kindersuchdienstkartei des 1948 von den Alliierten gegründeten Internationalen Suchdienstes (englisch: International Tracing Service; ITS). Diese erfasste unbegleitete, nicht-deutsche Kinder aus den westlichen Besatzungszonen, neben zwangsgermanisierten Kindern auch den Nachwuchs von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sowie jugendliche Vertreibungsopfer. Das Ziel damals war, möglichst vielen Kindern die Rückkehr in ihre Heimat und zu ihren Angehörigen zu ermöglichen. Gerade bei den zwangseingedeutschten Kindern war dies aufgrund der verschleierten Identitäten ein schwieriges Unterfangen.
In Kooperation mit den „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution“ erforscht Isabel Heinemann mit ihrem Doktoranden Marcel Brüntrup und Masterstudierenden mehr als 55.000 Fallakten. Das Center for Digital Humanities der WWU und die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Lars Linsen aus der Informatik sind ebenfalls in die Zusammenarbeit eingebunden. „Es gab in der Vergangenheit zwar einzelne Projekte, bei denen Forscher Teile der Akten analysiert haben, aber den kompletten Datensatz hat sich noch keiner angeschaut. Wir wollen erstmals die Vertreibungs- und Migrationswege dieser Kinder rekonstruieren und sichtbar machen“, erläutert Isabel Heinemann. „Von den 55.000 Fallakten können wir rund 17.000 detailliert untersuchen, da es zahlreiche Dubletten und Fälle mit zu wenigen Daten gibt. Die Recherche der Fallgeschichten gleicht häufig einer Ermittlungsarbeit.“
Durch die Öffnung der Arolsen Archives ergeben sich neue Forschungsmöglichkeiten
Seit einigen Jahren sind die digitalisierten Dokumente zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus‘ der Arolsen Archives öffentlich zugänglich. Im Mai 2019 erfolgte die Überführung des Internationalen Suchdienstes von einer Ermittlungsbehörde in ein Archiv und die Umbenennung in „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution“. „Bis zur Öffnung des Archivs waren die Arolsen Archives für uns Forschende eine Art ,Black Box‘“, schildert Isabel Heinemann. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet der Zugang zu den Akten die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen – auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. „Der Nationalsozialismus wird für uns Historikerinnen und Historiker ein Thema bleiben und bleiben müssen, weil er ein integrativer Teil der deutschen Geschichte ist“, führt Isabel Heinemann aus.
Die Forschungsergebnisse über den nationalsozialistischen Kinderraub wollen die WWU-Historikerin und ihr Team auf einer Webseite visualisieren. Durch die Darstellung der anonymisierten Einzelfälle sollen die Nationalitäten und Herkunftsregionen, die Umstände der Verschleppung, die Reisewege sowie die Nachkriegsgeschichte der damaligen Kinder dokumentiert werden, um so Systematiken und Muster zu entdecken. Für dieses umfangreiche Vorhaben hat Isabel Heinemann bereits Fördergelder beantragt.
Tamara erzählte Isabel Heinemann im Jahr 2005 von ihrer Zwangseindeutschung als Kind. Bis heute engagiert sie sich im Verein der Verfolgten des Nazi-Regimes in ihrer Region. Neben der Aufarbeitung der historischen Fakten gehören auch Anteilnahme und Respekt zu den Aufgaben von Isabel Heinemann: „Immer wieder kontaktieren mich Zeitzeugen. Ihnen möchte ich durch meine Forschung eine Stimme geben.“