Zwischen Wissenschaft und Gesellschaft: Die Vermittlung von interkultureller Kompetenz
Interkulturelle Kompetenz wird zunehmend als wichtige Grundvoraussetzung für das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft angesehen. So finden sich in fast allen aktuellen Koalitionsverträgen des Bundes und der Länder Forderungen nach Maßnahmen zur Vermittlung von Interkultureller Kompetenz. Die gesellschaftliche Relevanz dieser Kompetenz rückt damit immer mehr in den Fokus von öffentlichen Institutionen wie zum Beispiel Stadtverwaltungen, Wohlfahrtsverbänden und Schulen.
Viele wissenschaftliche Fachrichtungen – beispielsweise Pädagogik, Psychologie oder Kommunikationswissenschaften – beschäftigen sich mit dem Thema „Interkulturelle Kompetenz“. Gerade an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) positioniert sich aber auch die Ethnologie zu diesem Thema. Bereits 1992 wurde am Institut für Ethnologie von engagierten Ethnologinnen und Pädagoginnen der Verein „Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung“ (ESE) mit dem Ziel gegründet, durch die Vermittlung von Interkultureller Kompetenz der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft entgegenzuwirken. In einer Zeit, in der Interkulturelle Kompetenz noch kein Schlagwort war, legten die Gründerinnen des Vereins den Grundstein für die Vermittlung von Interkultureller Kompetenz auf ethnologischer Basis. Durch einen mit der WWU geschlossenen Kooperationsvertrag ist es ESE möglich, Interkulturelle Kompetenz in der Forschung, in der Gesellschaft und in der Lehre zu verankern.
Um Interkulturelle Kompetenz vermitteln zu können, wurden zunächst die theoretischen Grundlagen erarbeitet. Dabei entstand auch der Ansatz der sogenannten Dritt-Kultur-Perspektive, für den ESE 2003 den Innovationspreis des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung erhielt. Im Rahmen von Drittmittelprojekten, die ESE für das Institut für Ethnologie durchführt, werden diese theoretischen Grundlagen immer wieder – auch im interdisziplinären Austausch – anhand von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen überdacht. Aufbauend auf diesen theoretischen Grundlagen ist ein Transfer in die Gesellschaft möglich.
ESE bietet Trainings für unterschiedliche Zielgruppen an. Hierzu gehören unter anderem Erzieherinnen und Erzieher, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Verwaltungen. Aufgrund des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nehmen aktuell die Anfragen aus dem Gesundheitswesen und der Wirtschaft zu. Ziel der Trainings in der Erwachsenenbildung ist es vor allem, Handlungsstrategien zu erarbeiten, die den Teilnehmenden ihre Tätigkeit in einem multikulturellen Kontext erleichtern. In der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit führt ESE neben langfristig angelegten Projekten einzelne Projekttage durch. Hierbei werden interkulturelles und globales Lernen verbunden, um so einen Beitrag zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) zu leisten.
Die Erfahrung von ESE bei der Vermittlung von Interkultureller Kompetenz zeigt, dass nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis einfließen, sondern auch die Erfahrungen und Ergebnisse aus der Arbeit in der Praxis immer wieder zur Überarbeitung der Inhalte und Methoden führen müssen. Nur durch diese Rückkopplung ist es möglich, aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen wissenschaftlich auszuwerten und in die Vermittlung von Interkultureller Kompetenz einfließen zu lassen.
Diese Rückkopplung ist auch die Grundlage für die Seminare und Übungen, die ESE am Institut für Ethnologie durchführt. Im Bereich der Angewandten Ethnologie übernimmt ESE Lehraufträge im Modul 4 und 5 des Bachelor-Studiengangs Kultur- und Sozialanthropologie und im Modul 2 des Master-Studiengangs Ethnologie. In den Angeboten setzen sich die Studierenden mit dem Thema Interkulturelle Kompetenz aus ethnologischer Sicht auseinander und lernen die Tätigkeit in der Vermittlung von Interkultureller Kompetenz als mögliches Berufsfeld kennen. Hierbei ist es wichtig zu verdeutlichen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse allgemein verständlich und zielgruppengerecht vermittelt werden müssen. Dies fällt gerade vielen Ethnologinnen und Ethnologen schwer, werden sie doch im Studium immer wieder dazu angehalten, unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen und Aussagen zu relativieren.
Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von ESE sind zudem Seminare für die Studierenden anderer Fachrichtungen. So bietet ESE an der WWU Seminare im Studium im Alter und in Zusammenarbeit mit dem International Office im Rahmen der Allgemeinen Studiengänge an. Die Arbeit von ESE seit 1992 zeigt, dass es möglich ist, durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen und die ständige Rückkopplung zwischen Wissenschaft und Praxis auch ein sogenanntes „Orchideenfach“ außerhalb der Universität bekannt zu machen und in der Öffentlichkeit als gesellschaftsrelevante Wissenschaft zu präsentieren.
Die Autorin Dr. Ursula Bertels ist Vorstandsvorsitzende des Vereins „Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung“ und Lehrbeauftragte am Institut für Ethnologie der WWU.