Ein Pionier der Zeitforschung
Die 70 ist die neue 50. Dr. Jürgen P. Rinderspacher scheint nicht nur in der Zeitforschung ein Pionier seiner sozialwissenschaftlichen Zunft zu sein. Denn wie ein Rentner oder Pensionär kommt einem der 71-Jährige nicht vor. Jürgen Rinderspacher ist nach wie vor aktiv als Lehrbeauftragter und Projektleiter am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Und er ist Mitbegründer der 2002 aus der Taufe gehobenen „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“. Er zelebriert etliche seiner „Zeitweisheiten“ auch im Privaten – nicht nur altersbedingt, sondern auch als Essenz seiner jahrzehntelangen Forschungen in Münster und Hannover, wo er lebt, sowie in seiner Geburtsstadt Berlin.
Aber von vorn. Mitte der 1980er-Jahre veröffentlichte Jürgen Rinderspacher mit seiner Promotion „Gesellschaft ohne Zeit“ eines der ersten Bücher der neueren Zeitforschung. Zwei Jahre später folgte seine erste größere wissenschaftliche Schrift. Diese Erläuterungen zum Zeit-Begriff waren politisch beeinflusst, weil einige Arbeitgeber seinerzeit das arbeitsfreie Wochenende zunehmend in Frage stellten. Der Titel seines Werks lautete folgerichtig: „Am Ende der Woche. Zur sozialen und kulturellen Bedeutung des Wochenendes“. Bei Zeitforschern und Gewerkschaftern gilt es bis heute als ein Standardwerk zum Untermauern notwendiger Ruhephasen. Auch der Begriff „Zeitwohlstand“ für das vermeintliche Glück, im Vergleich zu früher mehr Zeit zu haben, geht auf den gelernten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zurück.
Angefangen hatte alles im Wissenschaftszentrum Berlin, wo er seit 1978 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der „Stressforschung“ arbeitete und eine Abhandlung über den Zusammenhang von Zeit und Stress fertigen sollte. „Daraus wurde später meine Promotion“, erzählt er. Das „Neuland“, das Jürgen Rinderspacher damit erkundete, machte ihn schließlich zu einem Pionier der Zeitforschung, zum Experten für Zeitverbrauch, Zeittheorie und Zeitnot. Das ist er sehr gerne, wie er sagt, weil das Unbekannte ihn schon immer reizte. „Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht.“ Es folgten über die Jahrzehnte Abhandlungen, Artikel, Vorträge zu Themen wie „Zeit und Arbeit“, „Zeit und Elternschaft“, „Zeit und Pflege Angehöriger“ und – hochaktuell – „Zeit und Umwelt/Nachhaltigkeit“.
Neuland, das er letztlich trotz Interesses nicht eroberte, war die Politik. Gereizt hätte es den jungen „Revoluzzer“ schon. Er war Student in Berlin in den 1960er-Jahren, Juso-Mitglied, trat in die SPD ein, war Berater der IG-Metall und viele Jahre hauptamtlicher Mitarbeiter bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. „Die Welt ist in der Wissenschaft doch besser zu verändern als in der Politik“, lautete sein Fazit. „Zudem sind der Wissenschaft weniger Grenzen gesetzt.“ Gerade beim Publizieren sei dies für ihn ein wichtiger Aspekt.
Dass in den vergangenen 20 Jahren neben dem zentralen Stichwort „Zeitwohlstand“ auch andere Fragen rund um den Faktor Zeit immer wichtiger wurden, liegt nach seiner Ansicht auf der Hand. „Im 20. Jahrhundert war in der westlichen Welt der materielle Wohlstand angewachsen. Zugleich wurde die verfügbare Zeit der Menschen trotz kürzer werdender Arbeitszeit immer knapper“, blickt Jürgen Rinderspacher zurück. Deshalb müssten künftig materielle und zeitliche Maßstäbe gleichermaßen angesetzt werden. Lebensqualität heiße, beides in ein optimales Verhältnis zu setzen. Was das bedeutet und wie man das wissenschaftlich durchdekliniert, ist nach wie vor einer seiner Forschungsschwerpunkte.
Obwohl der Ruhestand („65 war nie eine Grenze für mich“) längst erreicht ist und vielleicht auch mal ruhigere Zeiten kommen werden, scheint neues Neuland ein wissenschaftliches Sprachrohr zu brauchen – die Umwelt. Die Probleme damit entstehen seiner Überzeugung nach vor allem dadurch, dass viele Menschen nicht auf die Beschleunigung oder die Versüßung des Lebens verzichten wollen. Beispielsweise mit einem Wäschetrockner, einem PS-starken Auto oder einem übergroßen Eisschrank. „Auch dabei geht es um Zeitfragen: Ich brauche länger, wenn ich weniger Technik einsetze. Soll etwas schneller gehen, braucht es mehr Energie.“ Der Trockner, auf den der dreifache Familienvater nur früher als Extrem-Pendler angewiesen war, sei „ein triviales Beispiel für ein großes Thema“.
Einige persönliche Zeitfragen hat Jürgen Rinderspacher mit seinem Leben beantwortet. Sich Zeit lassen und Krankheiten auskurieren, sind zwei seiner Überzeugungen. Diesen Satz, gibt der passionierte Musiker mit eigenem kleinen Heim-Studio offen zu, sagt er heute deshalb so deutlich, weil er vor einigen Jahren mit einer lebensbedrohlichen Krankheit zu kämpfen hatte. Ruhephasen, bei denen ein Strandspaziergang in Dänemark schon mal zu einem „Flow“ werden kann, gehörten aber schon früher zu seiner Work-Life-Balance. Auch für sein Pendler-Leben gilt: Ich komme auch langsam ans Ziel. Jürgen Rinderspacher fährt oft mit der Bahn. „Ich habe eine Bahncard 100. Die Bahn ist mein zweiter Schreibtisch“, schmunzelt er. „Insofern kann es mich sogar nach vorne bringen, wenn ich langsam bin, weil ich in Ruhe arbeiten kann.“
Autorin: Juliane Albrecht
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 29. Januar 2020.