"Blick über den Tellerrand befruchtet die Arbeit"
Disziplinübergreifend zu arbeiten und zu forschen wird in der Wissenschaft immer wichtiger. Im Sammelband „Einheit und Vielfalt in den Wissenschaften“ hat ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern die Besonderheiten der Fächervielfalt an Universitäten herausgearbeitet. Kathrin Kottke sprach dazu mit den Herausgebern Prof. Dr. Michael Klasen vom Institut für Theoretische Physik und Dr. Markus Seidel vom Zentrum für Wissenschaftstheorie (ZfW) der WWU.
Interdisziplinarität in der Forschung wird immer wichtiger – warum ist das so?
Michael Klasen: Ausgangspunkt ist die seit Langem beobachtete Tendenz der immer stärkeren disziplinären Spezialisierung auf bestimmte Themen und Fachgebiete. Oftmals können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktuelle Entwicklungen nur noch in einem kleinen Teil ihres Fachgebiets im Detail verfolgen und sind daher gezwungen, sich immer stärker zu spezialisieren. Der Wunsch nach mehr Interdisziplinarität ist aus unserer Sicht eine Konsequenz dieser Spezialisierung – quasi eine Gegenreaktion. Da man zumeist in einem kleinen Themenfeld spezialisiert ist, droht die Vernachlässigung umfassender Fragestellungen oder das schlichte Übersehen alternativer Lösungsansätze, Verfahrensweisen und Antworten auf brennende Fragen des eigenen Bereichs.
Markus Seidel: Der Blick über den disziplinären Tellerrand liefert auf diese Weise oft eine unerwartete Befruchtung der eigenen Arbeit. Darüber hinaus erfordert die Lösung komplexer Probleme in unserer heutigen Welt immer häufiger die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen. Neben solchen inhaltlichen Gründen ist der Ausweis eines Forschungsprojekts als interdisziplinär aber natürlich oft auch ein strategisches hochschulpolitisches Instrument im Kampf um begrenzte Forschungsressourcen.
Was sind Herausforderungen und Grenzen der interdisziplinären Zusammenarbeit?
Klasen: Die Herausforderungen sind vielfältig: verschiedene methodologische Herangehensweisen, unterschiedliche Diskussions- und Forschungskulturen sowie verschiedenes Vokabular. Auch verschiedene wissenschaftstheoretische Auffassungen können die interdisziplinäre Zusammenarbeit erschweren. Zwischen den Disziplinen bestehen zum Teil gravierende Unterschiede dahingehend, was etwa einen Beleg für eine Hypothese, eine adäquate Erklärung eines Phänomens und letztlich sogar ein korrektes wissenschaftliches Vorgehen ausmacht.
Seidel: Daneben können es auch sehr konkrete Herausforderungen im Wissenschaftsprozess sein, die die interdisziplinäre Forschung betreffen. Ein typisches Beispiel ist die unterschiedliche Publikationskultur. Es gibt große Unterschiede zwischen den Disziplinen bezüglich der Frage, in welcher Sprache veröffentlicht wird, ob und wie ein Begutachtungsprozess strukturiert ist, welche Publikationsform akzeptiert ist und selbst bei der Reihenfolge, in der die Autoren bei einer Veröffentlichung genannt werden. Dies muss in jedem Einzelfall interdisziplinärer Kooperation geklärt werden.
Können Sie uns ein Beispiel für erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit an der WWU nennen?
Klasen: An der WWU gibt es eine Vielfalt an interdisziplinären Forschungsverbünden, insbesondere den Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘. Auch der Forschungsbereich ‚Zelldynamik und Bildgebung‘ arbeitet seit vielen Jahren disziplinübergreifend erfolgreich zusammen. Für mein Institut kann ich sagen, dass die Theoretische Physik seit jeher in enger Beziehung zur Astronomie, Mathematik, Informatik und Philosophie steht. Beispiele gegenseitiger Befruchtung sind die Kosmologie, künstliche Intelligenz sowie die Interpretationen der Quantenmechanik und Relativitätstheorie.
Seidel: Natürlich kann man auch auf die Institution verweisen, die uns als Herausgeber des Sammelbandes ‚Einheit und Vielfalt in den Wissenschaften‘ zusammengeführt hat. Das Zentrum für Wissenschaftstheorie hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, wissenschaftstheoretische Fragestellungen interdisziplinär zu behandeln.
Informationen zum Sammelband „Einheit und Vielfalt in den Wissenschaften“
Wissenschaftler sind in der Regel Experten auf eng umgrenzten Spezialgebieten. Dennoch spielt die Interdisziplinarität heute eine wesentliche Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt bei der Einwerbung von Forschungsgeldern. Was aber verbindet die Wissenschaften – jenseits der Institution Universität – inhaltlich, sprachlich und methodisch miteinander? Inwieweit lassen sich komplexe Phänomene auf einfache reduzieren, und was zeichnet Wissenschaft überhaupt als solche aus?
Diesen Fragen gehen Michael Klasen vom Institut für Theoretische Physik und Markus Seidel vom Zentrum für Wissenschaftstheorie der Universität Münster in dem von ihnen herausgegebenen Buch „Einheit und Vielfalt in den Wissenschaften“ nach. Es umfasst unter anderem Beiträge bekannter Wissenschaftler wie dem Philosophen Paul Hoyningen-Huene, dem Physiker Hermann Haken und dem Psychologen Wolfgang Tschacher. Biochemie und Soziologie, Mathematik und Germanistik kommen ebenso zu Wort wie die Theologie – letztere mit der sie stets begleitenden Frage, ob sie ihren Platz im Kreis der Wissenschaften überhaupt zu Recht beansprucht.
Die Neuerscheinung: Klasen, Michael/Seidel, Markus (Hg.): Einheit und Vielfalt in den Wissenschaften. De Gruyter: Berlin. 2019.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, Oktober 2019.