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Münster (upm)
Saure Gurke<address>© womue - stock.adobe.com</address>
Saure Gurke
© womue - stock.adobe.com

Die interdisziplinäre Gurke

Eine alte WWU-Pressemitteilung widmete sich dem Sommerloch / Experten schildern, was die Begriffe Flaute, Sommerloch und Saure-Gurken-Zeit für sie bedeuten

Saure-Gurken-Zeit, Sommerloch, Nachrichtenflaute: Es gibt zahlreiche Begriffe für die bevorstehende und von vielen Journalisten gefürchtete ereignisarme Zeit im Sommer. Wie sehen Wissenschaftler das Phänomen? Die Pressestelle der WWU Münster unter der Leitung von Jürgen Böckling verschickte dazu vor mehr als vier Jahrzehnten – am 20. August 1975 – eine Pressemitteilung mit dem Titel „Die interdisziplinäre Gurke“, die der Redaktion der Unizeitung wissen|leben kürzlich wieder in die Hände fiel. Die interessantesten Passagen lesen Sie im Folgenden. Ergänzend dazu haben wir drei Experten gefragt, was die Begriffe heutzutage für sie bedeuten.

Der Münsteraner Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Winfried B. Lerg, Direktor des Instituts für Publizistik der Wilhelms-Universität, ist dieser Tage dem Begriff der „Saure-Gurken-Zeit“ auf die Schliche gekommen. Nach einigen Nachforschungen im bis an die Decke mit alten Zeitungsbänden gefüllten Archiv des Instituts (Lerg: „Staubforschung“) fand er heraus, daß der Begriff „Saure-Gurken-Zeit“ gewissermaßen auf einem Hörfehler einiger Berliner Journalisten des vergangenen Jahrhunderts beruht.

Professor Lerg: „Der Begriff der ‚Saure-Gurken-Zeit‘ ist zweihundert Jahre alt. Er entstand bei Berliner Geschäftsleuten und gehörte dort bald zum Kaufmanns-Jargon. Er sollte die alljährliche Sommerflaute im Geschäftsleben ausdrücken. Seit etwa hundert Jahren ist die ‚Saure Gurke‘ zudem eine ständige Redewendung im Berliner Zeitungs-Jargon, und von dort aus trat sie den Siegeszug durch den Rest der deutschen Presselandschaft an.“

Die Bezeichnung selbst, weist Prof. Lerg nach, geht auf das Jiddische zurück: „Zohro“ bedeutet „Not, Unglück“ und „Joker“ heißt „schwer, groß“. Aus dem „zohro joker“ (schweres Unglück) geschäftlich kurz tretender jüdischer Kaufleute formulierten schnoddrige Berliner Zeitungsleute flugs die „Saure Jurke“ – so entstand ein Sprachgebrauch, der bis auf den heutigen Tag die speziellen Nöte flaute-geschädigter Redaktionsmitglieder signalisiert.

Dabei hat die Gurke diesen schlechten Ruf nicht verdient. Dietmar Ulbricht, Doktorand im Institut für Volkskunde der Universität Münster, sah völkischem Aberglauben und Sprachgebrauch aufs Maul und fand heraus:

Viele Vorstellungen ranken sich um das richtige Aussäen. Die Sterne spielen eine Rolle, und man beachte günstige Konjugationen. Fische, Skorpion und Zwilling gelten als günstig, holt sich doch auch mancher Publizist zur Not ein UFO aus dem Weltraum. Auch sexuelle Stimulantien fördern das Gedeihen: Wird die Gurke an Walpurgis gesät, geht sie so schnell auf, wie die nackte Hexe den Blocksberg hinaufreitet. Solides Gerät dagegen hindert. Läßt man nämlich Forke oder Spaten im Gurkenbeet stecken, so schwindet die Frucht dahin wie eine Sensationsente bei ehernen Nachforschungen.

Ehe man die Gurke sauer werden läßt, ist sie zu vielerlei nützlich. Bei abnehmendem Mond, zur Not auch an Feiertagen, streiche man sie über Warzen, auf daß diese verschwinden. Gurkenschalen dagegen helfen, so wird vielerorts geglaubt, nicht nur gegen Falten und Krähenfüße, sondern auch gegen handfesten Krampf. Selbst Fieberphantasien soll man bannen können, wenn man neben den Schlafenden eine Gurke gleicher Größe ins Bett legt. Nutznießer davon sind der Gurkengröße wegen allerdings nur Kinder oder Druckfehlerkobolde.

[...]

Sauer macht lustig – weiß der Volksmund. Und die „Saure-Gurken-Zeit“ animierte viele Journalisten dazu, lustige und bisweilen versponnene Themen zu entdecken, bereits als der Journalismus noch in den Kinderschuhen steckte, wie Prof. Lerg ermittelte: „In der Saure-Gurken-Zeit stürzten (und stürzen) sich die Reporter gerne auf saisonale Ereignisse, insbesondere auf das klassische Thema: ‚Wohin fahren Prominente in den Urlaub?‘ Ähnlich beliebt ist die Berichterstattung über den Anstieg des sommerlichen Getränkekonsums, zum Beispiel als die klassische Brauerei-Reportage.“

(Zur vollständigen Pressemitteilung zum Sommerloch vom 20. August 1975 als PDF folgen Sie bitte dem angefügten Link.)

 

Flaute, Sommerloch, Saure-Gurken-Zeit – was bedeutet das für Sie?

Prof. Dr. Johannes Wessels<address>© WWU - Peter Wattendorff</address>
Prof. Dr. Johannes Wessels
© WWU - Peter Wattendorff
Prof. Dr. Johannes Wessels, Rektor der WWU Münster und begeisterter Segler:

Machen wir uns nichts vor: Wenn man segeln möchte, ist die sommerliche Flaute nicht wirklich erstrebenswert, sondern einfach nur lästig. In der Regel führt sie unter den Seglern zu Verdruss und wirkt sich zudem nachteilig auf den Proviant aus. Auf der anderen Seite heißt es völlig zu Recht: In der Flaute werden die Rennen gewonnen. Gemeint ist damit, dass es entscheidend darauf ankommt, unbedingt als erster den nächsten Windstrich zu erreichen, um dann vor dem Feld herfahren zu können. Das klappt allerdings nur, wenn man bereit ist, Boot und Segel so zu stellen, dass sich gleich die erste Mütze Wind unmittelbar verfängt und die Segel nicht erst zum Flattern bringt. Trotzdem, solchermaßen errungene Siege sind immer nur die zweitbesten ...

 

 

Ralf Repöhler<address>© Oliver Werner</address>
Ralf Repöhler
© Oliver Werner
Ralf Repöhler, Leiter der Stadtredaktion Münster der Westfälischen Nachrichten/Münstersche Zeitung:

Die Gelegenheit scheint günstig, endlich mit einem ewigen Vorurteil des Lokaljournalismus aufzuräumen: Es gibt sie in Münster nicht, die nachrichtenarme Saure-Gurken-Zeit. Und vermutlich auch sonst nirgendwo. Sicher, in den Sommerferien ruht der politische Apparat und viele Ansprechpartner sind abgetaucht. Aber mit diesem Phänomen gilt es längst auch zu kürzeren Ferienzeiten umzugehen. Nachrichten gibt es indessen immer. Und gute Geschichten ohnehin. Journalisten müssen sie nur aufspüren, aufgreifen und einordnen. Wir freuen uns auf den Sommer und die Freiräume für tiefergehende Recherchegeschichten! Die Redaktion hat dann mehr als im Alltagsgeschäft die wunderbare Möglichkeit, eigene Themenschwerpunkte und Akzente zu setzen.

 

 

Lars Krüger<address>© WWU - Julia Harth</address>
Lars Krüger
© WWU - Julia Harth
Lars Krüger, Gärtnermeister am Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie der WWU:

Der Begriff Saure-Gurken-Zeit klingt nach Nutzlosigkeit und vertaner Zeit – und ist damit ein wenig diskriminierend für die Gurke. Denn wer sich in seinem Garten mit Hingabe den Gurken widmet, vertut seine Zeit nicht, sondern darf mit einer reichen Ernte rechnen! Mitunter so reich, dass sogar noch eine Gurkenmaske für die ganze Familie drin ist. Allerdings will die Gurke betüddelt werden, denn sie hat spezielle Ansprüche: So mag sie es überhaupt nicht kalt und darf erst nach den Eisheiligen ins Freie. Sie braucht einigen Platz, damit sie sich ausbreiten kann. Und sie benötigt Nährstoffe und Flüssigkeit. Wir sollten dankbar sein, dass im Münsterland das ganze Jahr Saure-Gurken-Zeit ist. Denn was wären die typischen Schnittchen ohne selbige obendrauf ...

 

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung „wissen|leben“ Nr. 5, 10. Juli 2019.

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