Alle paar Minuten verschwindet eine Art
Ob Bienensterben, bedrohte Fischbestände oder die mutmaßlich letzten Eisbären am Nordpol – die mediale Berichterstattung über das Artensterben ist allgegenwärtig und macht deutlich, dass die gesellschaftliche Relevanz wächst. Biologen bezeichnen den aktuellen Artenschwund als das sechste große Massenaussterben. Im Gegensatz zu den bisherigen Aussterbeereignissen, den sogenannten „Big Five“ der vergangenen 500 Millionen Jahre, wozu auch das Aussterben der Dinosaurier zählt, ist der jetzige Rückgang biologischer Vielfalt eine Begleiterscheinung unserer Epoche, in der der Mensch erstmals einen mitentscheidenden Einfluss auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde hat.
Naturschutz-Experten sind beunruhigt über das Verschwinden von Tieren und Pflanzen, die eine wichtige Funktion erfüllen, sei es als Bestäuber, Samenverbreiter oder Photosynthese-Betreiber. Diese Funktionen werden als Ökosystemdienstleistungen beschrieben und schaffen die Lebensgrundlage für alle Menschen auf der Welt. „Das lokale und globale Aussterben von Arten und der damit verbundene Verlust der genetischen Vielfalt haben gravierende ökologische Folgen – nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die Wirtschaft, Ernährungssicherheit und Lebensqualität der Menschen“, sagt Prof. Dr. Joachim Kurtz vom Institut für Evolution und Biodiversität der WWU. „Die genetische Variation ermöglicht einer Art, flexibel zu bleiben, um sich an veränderte Lebens- und Umweltbedingungen anzupassen.“
Und genau das müssen sehr viele Arten tun. Nach dem aktuellen „Living Planet Bericht“ des World Wide Fund For Nature (WWF) verschwinden pro Jahr 20.000 bis 50.000 Arten. Das ist alle paar Minuten eine Art, Tendenz steigend. Die Gründe dafür sind vielfältig: Lebensraumveränderungen wie etwa die Vernichtung von Biotopen, Waldvernichtung und Entwässerung, die Übernutzung von Ressourcen, die Luxus- und Trophäenjagd, klimatische Veränderungen sowie Umweltverschmutzung. „Diese Veränderungen verlaufen oftmals sehr schnell – da kommt die Anpassung der Tier- und Pflanzenwelt nicht mit“, erläutert Joachim Kurtz.
Um Flora und Fauna zu schützen, gibt es verschiedene Instrumente. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen wurde 1973 angesichts des dramatischen Rückgangs vieler Arten durch Wilderei und illegalen Handel geschlossen und von 183 Staaten unterzeichnet. Seitdem regelt es den Handel mit geschützten Tier- und Pflanzenarten. Auch die Europäische Vogelschutzrichtlinie sowie die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie sind wichtige Instrumente. „Mit rechtlichen Vorgaben hat der Gesetzgeber schon viel erreicht – zum Beispiel durch die Ausweisung von Schutzgebieten“, sagt der Rechtswissenschaftler Malte Kramer vom Zentralinstitut für Raumplanung der WWU. „Verfahren wie etwa eine Umweltverträglichkeits- oder Artenschutzprüfung sind in der baurechtlichen Zulassung von Vorhaben gesetzlich vorgeschrieben. Einerseits können somit seltene Arten und Habitate geschützt werden. Andererseits zeigt die Praxis, dass solche Verfahren sehr zeit- und kostenintensiv sind und oftmals nicht zielführend für den Artenschutz.“
Neben gesetzlichen Reglementierungen dienen auch Samen- und Genbanken dem Artenerhalt. Das „German Barcode of Life“-Projekt, an dem die WWU beteiligt ist, verfolgt das Ziel, die Artenvielfalt aller deutschen Tiere, Pilze und Pflanzen anhand ihres genetischen Fingerabdrucks – dem sogenannten DNA-Barcode – zu erfassen. „Wir bauen eine Datenbank des Lebens auf: Alle genetischen Informationen von über 20.000 Arten und 300.000 Individuen sind darin bereits enthalten. Uns stehen damit neue Möglichkeiten des Artenschutzes zur Verfügung“, sagt Prof. Dr. Kai Müller vom Institut für Evolution und Biodiversität und Direktor des Botanischen Gartens der WWU. „Mithilfe von DNA-Barcoding können Individuen von besonders schwierig zu identifizierenden und artenreichen Gruppen bestimmt werden – sogar Fragmente von Organismen wie etwa Fliegenbeine oder Wurzeln. Dadurch können wir feststellen, ob geschützte Arten in einem Areal vorkommen oder vorkamen und entsprechende Maßnahmen ergreifen.“ Mittels DNA-Barcoding wurden beispielsweise im Nationalpark Bayrischer Wald eine Schädlingsinventur im Wald durchgeführt und im Nationalpark Berchtesgaden die Quellenfauna erfasst.
Neben vielen Herausforderungen gibt es auch Erfolgsgeschichten des Artenschutzes: Der Wolf kehrt nach 150 Jahren in seine alten Lebensräume zurück. Mittlerweile gibt es mehr als 70 Rudel in Deutschland mit jeweils rund acht Tieren. „Wölfe stehen seit vielen Jahren in Europa unter strengem Schutz und dürfen nicht mehr gejagt werden. Unsere Landschaft ist für den Wolf auch heute noch geeignet, und die Bestände der Beutetiere wie Reh, Rothirsch und Wildschwein sind vielerorts hoch“, sagt Marie Neuwald vom Naturschutzbund Deutschland. „Mit geschätzt 150 erwachsenen, sich fortpflanzenden Individuen und etwa noch mal so vielen in Westpolen ist allerdings noch keine sichere zusammenhängende Bestandsgröße erreicht. Ohne geeignete Schutzmaßnahmen könnte die Population deshalb wieder einbrechen“, glaubt sie.
Autorin: Kathrin Kottke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung „wissen|leben“ Nr. 3, 8. Mai 2019.