Zentrale Forschungsbefunde
1) Wenn sich religiöse Identitäten mit politischen, wirtschaftlichen oder nationalen Interessen verbinden, trägt dies oft zur Stärkung von Religion und Kirche bei.
Die Studie zeigt diesen Zusammenhang etwa am Beispiel von Russland auf, wo in den vergangenen Jahrzehnten die Identifikation mit der Orthodoxie in breiten Teilen der Bevölkerung rasant gestiegen sei, verbunden mit einer ebenso deutlichen Zunahme des Nationalstolzes. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Russisch-Orthodoxe Kirche zum neuen Identitätsmarker, Kirche und Staat gingen eine enge Allianz ein. Religiosität muss dabei eher als Ausdruck kultureller Identität denn als eine Form des verinnerlichten Glaubens verstanden werden, wie Detlef Pollack zuletzt im Kontext des Kriegs gegen die Ukraine in Beiträgen ausgeführt hat.
Aus dieser Forschungsperspektive lässt sich auch die Attraktivität der Pfingstkirchen in Lateinamerika und der protestantischen Kirchen in Südkorea erklären, die bei ihren Mitgliedern mit disziplinierter Lebensführung für mehr Wohlstand und Aufstieg sorgen.
2) Häufig schwächen sich religiöse Bindungen wieder ab, wenn die mit religiösen Mitteln verfolgten politischen, wirtschaftlichen oder nationalen Ziele erreicht wurden.
Mit höherem Wohlstandsniveau oder dem Ausbau des Sozial- und Bildungssystems besteht für die Nutzung kirchlicher Kanäle oft keine Notwendigkeit mehr, da für politische Partizipation, berufliche Ausbildung und soziale Hilfe nun auch andere Wege offenstehen.
Dies gilt für die meisten Länder in Westeuropa in den Jahrzehnten nach 1945, auch für die deutsche Kirche. In Deutschland waren die Gottesdienste nach der nationalen, sozialen und moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus überfüllt. Religiöse und nicht-religiöse Interessen verbanden sich: Die Kirchen waren ein Hort der sozialen Ordnung, der moralischen Orientierung und der politischen Wegweisung. In einer Zeit der Not, der sozialen Unsicherheit und der Angst vor einem neuen Krieg boten sie vielen Menschen geistige und emotionale Heimat. Wenig später war die Kirche in den Augen einer zunehmenden Zahl von Deutschen zu einer autoritären Institution geworden, von der sie sich emanzipieren wollten. Ende der 1960er setzte eine Austrittswelle ein, in deren Verlauf Jahr für Jahr Hunderttausende der Kirche den Rücken kehrten, vor allem Hochgebildete, Männer, Städter und Gutverdienende. Immer weniger sahen in ihr eine vertrauenswürdige, politisch und moralisch unentbehrliche Institution, auf die die Gesellschaft zur Aufrechterhaltung ihres Zusammenhaltes nicht verzichten könne.
Die Soziologie spricht, um diese Prozesse zu erfassen, von funktionaler Differenzierung, die in ihren Augen ein wichtiges Merkmal moderner Gesellschaften darstellt: Soziale Teilsysteme wie Religion, Politik, Recht und Wirtschaft treten auseinander und gewinnen an funktionaler Autonomie. Dadurch vermindern sich für Religion und Kirche die Chancen, Einfluss auf diese nichtreligiösen Sphären der Gesellschaft zu nehmen und das gesellschaftliche Leben religiös zu überwölben. Auch wenn Differenzierung nicht automatisch zum Bedeutungsrückgang des Religiösen führt, ist den Autoren zufolge ein solcher Effekt doch sehr wahrscheinlich.
3) Kommen sich Religion und Politik zu nah, wirkt sich das häufig negativ auf die religiöse Integrationsfähigkeit aus.
Die Verbindung von Religion und politischen Interessen kann aber auch eine zunehmende Entkirchlichung zu Folge haben, wie die Untersuchungen in einigen Ländern zeigen. In den USA etwa haben zuletzt viele ohnehin religiös distanzierte Menschen infolge der Allianz der Evangelikalen mit konservativen politischen Positionen ihre religiösen Bindungen ganz aufgegeben. Dabei sind vor allem die moderaten protestantischen Mainline Churches vom Mitgliederschwund betroffen.
Auch in Polen kehren der Studie zufolge immer mehr liberalere Katholiken ihrer Kirche den Rücken, da diese in ihrer Moraltheologie und ihrem Nationalverständnis ähnliche Positionen wie die konservative PiS-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ vertritt. In Italien war der Katholizismus bis etwa zur Jahrtausendwende parteipolitisch eingehegt, so die Autoren, ohne dass Politik und Religion zusammenfielen. Mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen Lega Nord unter ihrem Parteichef Matteo Salvini kam es mehr und mehr zu einer politischen Spaltung des Landes: Die Populisten benutzen der Studie zufolge Religion, um katholische Anhänger zu mobilisieren; gerade deshalb distanzieren sich jedoch liberale Gläubige von der Kirche.
Oft handelt es sich hier soziologisch gesprochen um Absorptionsprozesse: Eine Religion, die ihre Relevanz an ihren nichtreligiösen Nutzen bindet, setzt sich der Vergleichbarkeit und Ersetzbarkeit aus. Sie läuft den Autoren zufolge Gefahr, die von ihr angebotenen Heilsgüter zu entwerten.
4) Der schwindende Glaube an einen personalisierten Gott ist ein Anzeichen fortschreitender Säkularisierung.
Die Forscher stellen weltweit eine zunehmende Abkehr vom Glauben an einen personalisierten Gott fest, der nach religiöser Vorstellung in das eigene Leben eingreifen kann und vor dem sich Gläubige zu rechtfertigen haben. In den meisten westeuropäischen Ländern hat sich die Mehrheit der Gläubigen vom Glauben an einen persönlichen Gott, wie ihn die Bibel verkündigt, abgewandt und glaubt heute nur noch an eine höhere Macht, deren Wirken nicht direkt erfahrbar sei. Diese Form des Glaubens ist den Forschungen zufolge den Menschen weniger wichtig. Deshalb interpretieren die Wissenschaftler diese „Verflüssigung der Transzendenz“ nicht nur als einen Wandel des Inhalts von Religiosität, sondern auch als einen Ausdruck der fortschreitenden Säkularisierung. Hinter diesen Verflüssigungstendenzen stehende Gründe sehen sie unter anderem in der zunehmenden allgemeinen Skepsis gegenüber allumfassenden Weltdeutungen und Ideologien. Ein vielfältiges spirituelles Angebot trägt laut den Erhebungen nicht zu einer Stärkung des Glaubens bei.
5) Dem schwindenden Gottesglauben geht ein Rückgang gemeinschaftlicher Rituale voraus.
Gemeinsame Rituale wie der Gottesdienstbesuch oder das Tischgebet stärken den Glauben, verlieren laut der Studie heute aber immer mehr an Relevanz. In den 1950er Jahren waren religiöse Praktiken etwa in den Niederlanden und Deutschland weit verbreitet, heute sind sie nur noch für eine immer weiter schrumpfende Minderheit von Bedeutung. Das Aufrechterhalten religiöser Praktiken sei für den Einzelnen mit mehr Aufwand verbunden als etwa die reine Kirchenmitgliedschaft oder das grundsätzliche Festhalten am Glauben, so die Autoren. Verlieren religiöse Rituale an Bedeutung, wirkt sich dies den Erhebungen zufolge langfristig auch negativ auf die Kirchenzugehörigkeit und den Glauben aus. Dieser Trend ist in den meisten Staaten Westeuropas zu verzeichnen.
6) Je mehr die Menschen auf Selbstbestimmung, Lebensgenuss und Selbstverwirklichung Wert legen, desto distanzierter stehen sie den Kirchen gegenüber.
Auch wenn eine Mehrheit in Deutschland meint, ganz individuell ohne Kirche gläubig sein zu können, lässt sich ein solches Christsein ohne Kirche statistisch nur bei einer Minderheit nachweisen. Nur wenige leben den Erhebungen zufolge den christlichen Glauben ohne kirchliche Institution und Gemeinschaft. Wie wichtig die soziale Einbindung für den Glauben ist, lässt sich auch daran erkennen, dass Formen einer hochindividuellen esoterischen Spiritualität außerhalb von Kirche und Christentum oft stark fluktuierend und wenig stabil sind.
7) Je mehr Verwirklichungsmöglichkeiten in Beruf und Freizeit bestehen, umso mehr verschiebt sich die Aufmerksamkeit von religiösen zu säkularen Praktiken.
Moderne Gesellschaften bieten mit ihrem breiten Kultur-, Unterhaltungs- und Freizeitangebot vielfältige Alternativen zur religiösen Lebensgestaltung. Die Forscher sprechen hier von Distraktion: Bei einem breiten nichtreligiösen Angebot verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Religion auf andere Lebensbereiche wie Beruf, Familie, Freundschaft, Unterhaltung oder Konsum. Die Abschwächung religiöser Bindungen ist dabei oft nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Angeboten, sondern mehr ein schleichender, kaum reflektierter Prozess der Umakzentuierung von Wertpräferenzen.
8) Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft wirkt sich in der Regel negativ auf die Religiosität aus, kann aber religiöse Pluralität punktuell stärken.
Die Religiosität sinkt zwar in der Regel bei stärkerer Ausdifferenzierung der Gesellschaft in einzelne Bereiche wie Politik, Recht, Religion und Wirtschaft, wie in Westeuropa seit den 1960er Jahren zu beobachten ist, doch die Wissenschaftler stellen punktuell auch gegenläufige Entwicklungen fest. So können in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften, die Kirche und Staat trennen, neue Freiheiten für Religionsgemeinschaften entstehen: Die Aleviten sind in Deutschland eine anerkannte Körperschaft öffentlichen Rechts, in der Türkei hingegen nicht als eigene religiöse Gruppierung respektiert und politisch unterdrückt.
Unter Türkeistämmigen in Westdeutschland zeigen die Erhebungen sowohl Tendenzen der sozialen Anpassung an die säkularisierte Mehrheitsgesellschaft als auch Tendenzen der religiösen Selbstbehauptung: So besucht die zweite und dritte Generation der Zugewanderten zwar seltener die Moschee als die erste, schätzt sich zugleich aber häufiger als religiös ein. Insofern bekennt sie sich zu ihrer Herkunft und passt sich gleichzeitig der Mehrheitsgesellschaft an. Den Autoren zufolge bezeichnen sich zwei Drittel der Türkeistämmigen in Westdeutschland als religiös, in der westdeutschen Gesamtbevölkerung sind dies nur zwei Fünftel.
9) Äußerer religiöser Zwang behindert die Verinnerlichung des Glaubens.
Zwar profitiert der Glaube den Forschern zufolge von einer gemeinschaftlichen und institutionellen Einbettung. Wenn diese so stark ausgeprägt ist, dass das Individuum kaum persönlichen Spielraum besitzt, verkehrt sich dieser Effekt jedoch in sein Gegenteil und intrinsische Motive des Glaubens schwächen sich ab. In Westeuropa spielt das staatskirchliche Erbe eine große Rolle: Im Unterschied zu den USA, wo Kirche und Staat seit mehr als 200 Jahren institutionell getrennt sind, wird die Kirche in Deutschland und anderen westeuropäischen Gesellschaften oft als autoritäre Herrschaftsinstitution wahrgenommen. Eine weit verbreitete Kirchenskepsis ist die Folge. Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen als autoritär erfahrenen kirchlichen Strukturen und Abschwächung intrinsischer Glaubensmotive sehen die Autoren in den protestantischen Gemeinden Südkoreas, in denen die Mitglieder einem hohem kirchlichen Kontrollanspruch ausgesetzt sind.
10) Kleine Religionsgemeinschaften profitieren von Konflikten mit der Mehrheitsgesellschaft, besonders wenn sie auch nichtreligiöse Interessen vertreten.
Evangelikale und pfingstlerische Gruppen in den USA und Lateinamerika setzen durch eine subkulturelle Identität einerseits auf Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft, andererseits beeinflussen sie diese durch soziale und politische Interventionen, etwa wenn es um Abtreibung und Homosexualität geht. Ihr Verhältnis zur übrigen Gesellschaft ist der Studie zufolge durch die konflikthafte Gleichzeitigkeit von Abgrenzung und Anknüpfung gekennzeichnet. Dies hat oft einen identitätsstiftenden Effekt auf die Mitglieder, die auf diese Weise ihren Glauben in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung effektiv einsetzen können. (apo/vvm)