(C2-29) „Schutzschild Euphrat“ ? – Religiöse Vielfalt und kulturelle Identität im römischen Nahen Osten zwischen Tradition und Konstruktion

 

Die Landschaften westlich und östlich des mittleren Euphrats, Nordsyrien und Nordmesopotamien, werden als Austausch- und Begegnungsraum wahrgenommen, der seit Jahrtausenden konstitutiv ist für die Ausbildung und Entwicklung religiöser wie kultureller Identitäten. Die Region erscheint auf der einen Seite als Quelle von Innovationen, von der neolithischen Revolution bis zur Entwicklung neuer religiöser Ideen, auf der anderen Seite als eine Grenzregion, in der Ost und West aufeinandertreffen, sowohl im friedlichen Austausch als auch konfrontativ. Diese doppelte Lesart prägt den westlichen Diskurs bis heute, wobei inzwischen die Wahrnehmung der Region als frontier zu einem imaginierten und feindlichen Orient überwiegt.

 

Diese Rezeption steht in einer weit zurückreichenden Tradition von Zuschreibungen, Grenzziehungen und Konstruktionen von Identität und Alterität. Ihre Wurzeln liegen in der Antike. Von entscheidender Bedeutung war die Zeit der Etablierung Roms als global player in der östlichen Mittelmeerwelt, als im 1. Jahrtausend vor Christus eine Demarkationslinie zwischen den römischen und den iranisch/parthischen Einflussgebieten entstand. Der Euphrat wurde zum ersten Mal als politische Grenze zwischen Ost und West begriffen, die dann in zunehmendem Maß auch kulturell und religiös konnotiert wurde. Entsprechende Zuschreibungen sind allerdings primär im literarisch überlieferten Diskurs römischer Eliten zu fassen. Kaum erforscht ist hingegen, wie das Wechselspiel von Politik, Konflikten und Akkulturationen in der Region selbst funktionierte und welche Auswirkungen es hatte. Wie reagierten lokale Gruppen und lokale Kulte beiderseits des Euphrats auf die neue politische Situation? Welche Verwerfungen ergaben sich durch das Zusammenprallen der konkurrierenden Machtblöcke und wie beeinflussten sie langfristig Gesellschaft und Religion? Können wir tatsächlich ein Auseinanderdriften beobachten? Wie unterschieden sich die religiösen Verhältnisse beiderseits des Flusses? Hatten die Kulte östlich des Euphrats eher ein "traditionelles", stärker orientalisches Erscheinungsbild, das von mesopotamischen wie persischen Einflüssen dominiert wurde, die westlich des Flusses dagegen einen eher "innovativen", griechisch-römisch geprägten Charakter, der den Dynamiken des politischen Wandels in der Levante Rechnung trug? Zu berücksichtigen sind dabei auch die naturräumlichen Bedingungen. Nordsyrien war stärker urbanisiert und eine sesshafte Lebensweise dominierte, wohingegen in Nordmesopotamien nomadisch lebende Stämme eine große Rolle spielten. Gab es also spezifische Voraussetzungen im sozioökonomischen Bereich für die religionsgeschichtlichen Entwicklungen? Gerade die sozialen Dimensionen religiöser Pluralität bedürfen der systematischen Analyse. Dabei ist dem Faktor Raum für die Verflechtung oder Abgrenzung von Religionen und Religionsgemeinschaften, aber auch für die Entstehung sakraler Orte als Zentren religiöser Erinnerungskultur stärker als bisher Rechnung zu tragen.

Der Fokus soll aber nicht nur auf Abgrenzung liegen. Aus der indigenen Perspektive scheint eine solche Festlegung nicht notwendig und/oder nicht immer gewünscht gewesen zu sein. Von manchen lokalen Akteuren wurde kulturelle und religiöse Inbetweenness bewusst inszeniert und instrumentalisiert. Das kommt besonders deutlich zum Ausdruck in dem neu geschaffenen synkretistischen Religionsprogramm des späthellenistischen kommagenischen Königs Antiochos I., der die Verschmelzung von Ost und West programmatisch zur Legitimation seiner Herrschaft einsetzt. Zudem ist zu untersuchen, ob das in der religiösen Repräsentation zu beobachtende Code Switching als Form lokaler Resistenz gewertet werden muss.

Die geplanten Forschungen tragen somit zum besseren Verständnis der Religionsgeschichte des Vorderen Orients bei. Reichhaltige epigraphische wie archäologische Evidenzen erlauben die Materialisierung lokaler Religionen und ermöglichen es auf diese Weise zu verstehen, wie lokale und regionale religiöse Strukturen durch überregionale Austausch-, Assimilations- und Transformationsprozesse, aber auch durch Konfrontation und Gewalt verändert werden. Auf einer Metaebene soll zudem untersucht werden, in welchem Maße die bisherige Forschung durch orientalistische und kolonialistische Diskurse geprägt ist, ein Phänomen, dem in den Altertumswissenschaften bislang nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wurde.