(A2-4) Die Implementierung geschriebener Normen im Frühmittelalter im Spannungsfeld von Religion und Politik

Die Debatte über die Bedeutung geschriebener Normen im europäischen Frühmittelalter ist von einer Engführung auf den Bereich von Politik und weltlichem Recht gekennzeichnet. Für die Königsherrschaft zwischen der ausgehenden Antike und der Jahrtausendwende besaßen Gesetze und andere normative Texte keine grundlegende Bedeutung, weil sich politisches Agieren vor allem an ungeschriebenen Spielregeln und nicht verschrifteten Rechtsgewohnheiten orientierte. Wo normative Texte überliefert sind (sog. ‚Leges gentium‘, Kapitularien), ist ihre Relevanz fraglich, weil sie als Ausdruck eines praxisfernen normativen Diskurses erscheinen. Die umfangreichen Sammlungen religiöser Texte mit normativem Anspruch aus dem früheren Mittelalter, namentlich Mönchsregeln und Synodalakten, haben in der Debatte über die Bedeutung normativer Schriftlichkeit in der frühmittelalterlichen Kultur bis in jüngste Publikationen hinein allerdings noch nicht die gebotene Aufmerksamkeit gefunden. Darin spiegelt sich die in der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert dominierende Trennung von Religion und Politik. Vor der Folie der gezielten, unter christlichen Vorzeichen stehenden Entdifferenzierung von Politik und Religion seit der Spätantike ist diese Trennung jedoch anachronistisch.

Das Teilprojekt untersucht die Bedeutung religiös motivierter normativer Schriftlichkeit für die frühmittelalterliche Kultur und Politik. In der ersten Antragsphase stand die Begründung und Inszenierung von Normativität im frühen Mönchtum im Zentrum der Arbeit. In der zweiten Beantragungsphase werden Synoden fokussiert, die an der Schnittstelle von Religion und Politik stehen. Herrscher präsidierten, setzten die Kanones durch ihr Edikt in Kraft oder ließen Gesetze von den Synodalen bestätigen. Auch wurden grundsätzliche Fragen der Herrschaftsstruktur und Machtverteilung in Synoden ausgehandelt und inszeniert. Somit sind Synoden zugleich zentrale Momente der Produktion normativer Schriftlichkeit wie des Bemühens ihrer Implementierung. Ausgehend von der Verschränkung von Politik und Religion im synodalen Geschehen wie in den Synodalakten wird nach den Charakteristika dieser Kooperation von Herrschern und Kirchen gefragt. Der Vergleich mit den Mönchsregeln belegt die Vielfalt der Wege, auf denen innerhalb der christlichen Traditionen textliche Autorität begründet und in gesellschaftliches Agieren umgesetzt werden kann. Die Zusammenschau beider Überlieferungen ermöglicht es, die Eigenheiten religiöser Zielvorstellungen und Argumentationszusammenhänge als eigenständige Faktoren im Spannungsfeld von Politik und Religion herauszuarbeiten und an ausgewählten Handlungsfeldern die Implementierung normativer Diskurse in die gesellschaftliche Praxis zu analysieren.


Das Projekt ist Teil der Koordinierten Projektgruppe Implementation und Durchsetzung von Normen.