(A2-23) Religiös radizierte Wirtschaftsordnungen unter dem Grundgesetz – Neuthomistisches Naturrecht in deutschen Nachkriegsverfassungen

Dass das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland nicht allein Enteignungen erlaubt (Art. 14 Abs. 3 GG), sondern auch die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln beziehungsweise ihre Überführung in Formen der Gemeinwirtschaft zulässt (Art. 15 GG), irritiert bis heute viele Beobachter, die eine Entscheidung der bundesdeutschen Verfassung für die Marktwirtschaft als schlechthin selbstverständlich voraussetzen. Beide Bestimmungen sind aber nicht nur geltendes Recht, sondern quasi die Endmoränen einer viel breiteren Entwicklung, die ihren Niederschlag vornehmlich in den süd- und westdeutschen Landesverfassungen der Nachkriegszeit gefunden hat, die sich entweder erdrückenden christdemokratischen Mehrheiten verdanken (so in Bayern, im Südwesten oder in Rheinland-Pfalz) oder doch unter maßgeblicher Beteiligung der CDU beziehungsweise CSU zustande gekommen sind: Dass ausgerechnet die Bayerische Verfassung von 1946 soziale Grund-rechte wie das Recht auf Arbeit und Wohnung kennt (Art. 106 Abs. 1, 166 Abs. 2 BayVerf.), passt nicht recht zum geläufigen Bild der „konservativen Bastion“ und ist selbst Verfassungsjuristen häufig nicht bekannt.

Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die einschlägigen Bestimmungen als verfassungsrechtliche Anleihen bei der katholischen Soziallehre, näher der neuthomistischen Wirtschaftslehre, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formuliert worden ist. Die Bestimmungen der Landesverfassungen sind in dieser Perspektive Teil der vielzitierten „Naturrechtsrenaissance“ der Nachkriegszeit – aber anders als viele Ausformungen dieser gewöhnlich für überwunden befundenen Denkrichtung bis heute in Geltung.

Das Projekt will näher untersuchen, inwiefern in die Verfassungen der Jahre nach 1945 eindeutig religiös geprägte Normen zur Ordnung der Wirtschaft Eingang gefunden haben. Dabei ist danach zu fragen, wie diese Inkorporation vor sich gegangen ist (sind die Akteure religiös gesonnene Politiker oder politisch aktive Geistliche?) und ob sie als religiös radizierte Normgebung überhaupt wahrgenommen oder gar problematisiert worden ist (hier ist etwa von Interesse, wie sich das Verhältnis zu streckenweise inhaltsgleichen Forderungen solcher Landesverfassungen präsentiert, die wie die hessische sozialistisch-säkularen Mehrheiten geschuldet sind). In rechtssoziologischer Perspektive ist ferner nach der Anwendung der einschlägigen Bestimmungen und damit ihrer Steuerungsfähigkeit für das Subsystem Wirtschaft zu fragen. Schließlich ist in normativer Perspektive zu untersuchen, ob sich die religiös induzierte Genese heute noch auf Deutung oder gar Geltung der Normen auswirken kann oder muss.


Das Projekt ist Teil der Koordinierten Projektgruppe Religiöse Einflüsse auf wirtschaftliche Ordnungen und Handlungen.