„Bedeutsamer Vordenker der europäischen Wirtschaftsethik“
Rechtshistoriker des Exzellenzclusters machen erstmals das Werk des niederländischen Juristen und Moraltheologen Leonardus Lessius zugänglich – Innovative rechtliche und ethische Prinzipien entwickelt – Vom Privatrecht bis zur Beichte – Erster Band der Edition
Pressemitteilung vom 28. September 2020
Erstmals ist das lateinische Werk eines bedeutsamen Vordenkers der modernen Wirtschaftsethik, des niederländischen Juristen und Moraltheologen Leonardus Lessius (1554-1623), auf Deutsch zugänglich. „Wie kaum ein Gelehrter seiner Zeit kannte sich der Jesuit mit der neuen Praxis des Geld-, Termin- und Versicherungshandels aus, die er in Antwerpen oder Frankfurt beobachtete, und verarbeitete diese Beobachtungen in seiner naturrechtlichen Beichtkasuistik in einer derart aktuellen und praxisnahen Weise, dass sein Werk ein Bestseller wurde und schon zu Lebzeiten in fünfzehn Auflagen erschien“, so der Rechtshistoriker Prof. Dr. Nils Jansen vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU, der die Edition und Übersetzung des Lessius-Hauptwerkes „Über die Gerechtigkeit und das Recht“ herausgibt. Der erste von zehn Bänden erscheint in der kommenden Woche im frommann-holzboog Verlag.
Aus moraltheologischer Perspektive geht es bei Lessius um alles, was für das Seelenheil und die Beichte wichtig erschien: Verträge, Erbschaften und Spenden, politische Beschlüsse, Bodenschätze und Jagdrechte, Ehesachen, Verführungen und das rechte Maß an Alkohol. „Juristisch betrachtet ruht das Privatrecht, das Lessius entwickelt, auf Prinzipien, die bis heute gelten: die Vertragsfreiheit oder der Schutz auf Eigentum und körperliche Unversehrtheit.“ Das Werk wurde bald nach dem Erscheinen 1605 zum Standardwerk, wie Nils Jansen darlegt. „Lessius‘ Leser waren zunächst einmal Jesuiten und Pfarrer, die es in allen moralischen Fragen der Seelsorge nutzen konnten.“ Darüber hinaus las es die religiöse, juristische und politische Klasse der Zeit, besonders in den katholischen Territorien Nordeuropas.
Lessius betrachtet die Handlungen von Menschen sowohl unter juristischen als auch unter moraltheologischen Gesichtspunkten und differenziert präzise das weltliche und kanonische Recht vom moraltheologisch entscheidenden Naturrecht. Das Werk kommentiert die „Summa theologiae“ des Kirchenlehrers Thomas von Aquin, bildet ein Kompendium zu den spätscholastischen Diskussionen im 16. Jahrhundert und wurde zu einer Hauptquelle für die Naturrechtstheorie des Philosophen und Theologen Hugo Grotius (1583-1645). „Es lebt von Lessius‘ Detailkenntnis der Wirtschaftspraxis seiner Zeit und ist zentral für die Rechtsgeschichte Europas und die sich entwickelnde europäische Wirtschaftsethik.“
Im 19. Jahrhundert vergessen, im 20. Jahrhundert wiederentdeckt
Der Erfolg erklärt sich nach Jansen daraus, dass das Buch theologische und juristische Blickwinkel verband und Experten darüber viel knapper und aktueller informierte als Konkurrenzwerke. „Es erschloss mit klugen Allegationen, Verweisen auf ältere Schriften, die gesamte rechtswissenschaftliche Diskussion zu einem Thema – und widmete sich in der Kasuistik, der moraltheologischen Beurteilung von Einzelfällen, bis heute aktuellen Themen.“ Ein Beispiel: Sind Provisionen für Bankiers bei Geldwechselgeschäften erlaubt? Lessius differenziert: Für die reine Verwahrung gibt es keine Provision, wohl aber für Gewinn, der mit verwahrtem Geld erzielt wird. Ein anderer Fall: Was muss der Nießbraucher tun, wenn Bäume eingehen, die er nutzt? Abgestorbene Bäume hat er zu ersetzen, aber nicht bei höherer Gewalt wie Unwetter.
Trotz seines außerordentlichen Erfolgs im 17. Jahrhundert geriet Lessius, wie die Spätscholastik überhaupt, im 19. und 20. Jahrhundert fast gänzlich in Vergessenheit. Mit dem Anbruch der Moderne wurde diese Art scholastischer Theologie, der katholisch-thomistische Naturrechtsdiskurs des 16. und 17. Jahrhunderts, zunächst uninteressant, so Herausgeber Nils Jansen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts geriet Lessius dann aber wegen der ökonomischen Theorieansätze erst in den Fokus der Wirtschaftsgeschichte und später als ein maßgeblicher Vertreter der „Seconda scolastica“ ins Blickfeld der Rechtsgeschichte, der politischen Theorie und der Theologie. Nils Jansen: „Mit der Wiedererschließung dieses frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurses, der die politisch-rechtliche Sprache der Moderne nachhaltig geprägt hat, wird auch Lessius ein bekannterer Name.“
Herausforderungen der Übersetzung
„Die Übersetzung des Werkes ins Deutsche ist eine besondere Herausforderung, da es bis heute kaum Wörterbücher gibt, die den lateinischen Sprachgebrauch des 15. und 16. Jahrhunderts erschließen“, erläutern die Philologen und Übersetzer Konstantin Liebrand und Klaus Wille. „Es mangelt an modernen historischen Sachwörterbüchern zu Theologie, Philosophie und Kanonistik. Hier ist man teils auf Vergleiche mit anderen Werken der Zeit angewiesen, vieles ergibt sich aber aus der stetig steigenden Vertrautheit mit der Textgattung.“ Mit dem ersten der auf zehn Bände angelegten Edition sind nun 71 der 800 Seiten von Lessius‘ Hauptwerk „De Iustitia et Iure caeterisque virtutibus cardinalibus“ auf Deutsch zugänglich. Das Werk erschien erstmals 1605, die Edition beruht aber auf der letzten von Lessius selbst herausgegeben Ausgabe von 1618. Die zuvor erschienenen, teils deutlich abweichenden Ausgaben sind textkritisch eingearbeitet. Die nächsten vier Bände der Edition sollen in den kommenden drei Jahren erscheinen. (vvm/maz)