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Corona und die öffentliche Moral

Von Nils Jansen, Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der WWU

Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Nils Jansen
Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Nils Jansen
© Julia Holtkötter

Wer in diesen Tagen an die frische Luft geht, wie das offenbar alle Deutschen tun, trifft bisweilen auf Spaziergänger, die fragen, ob eigentlich Mittwoch oder Donnerstag sei. Zwei Wochen Shutdown genügen, um Menschen ihr Zeitgefühl zu nehmen. Das Leben hat für manche seinen Rhythmus verloren. Man kann darüber lächeln.

Ohne Orientierung steht die Gesellschaft aber auch vor den grundlegenden normativen Fragen, die die Coronapandemie aufwirft. Denn diese Epidemie – das unterscheidet sie von früheren Seuchen wie der Pest – bedroht nicht jedermann in gleicher Weise und damit die Gesellschaft als Ganze, sondern bildet eine ernsthafte Bedrohung nur für einen Teil der Bevölkerung. Sie zwingt uns zu Antworten auf die Frage, welche Rücksicht wir einander schulden, wie weit wir mit Rücksicht auf das Wohl anderer auch schmerzliche Einschränkungen hinnehmen müssen. Aber gerade hier fehlt es an einem gesellschaftlichen Kompass: an einem einigermaßen kohärenten Set gemeinsamer Regeln und Überzeugungen jenseits von Rechtsnormen und medizinischen Handlungsanweisungen. Denn bislang, etwa in der Klimadiskussion, hat man solche Fragen zumeist verdrängt.

Viele meinen, etablierte Regeln gelten selbstverständlich weiter. Wenn der Einzelhandel klagt, er werde von den Ladenmieten in seiner Existenz bedroht, soll der Staat einspringen. Verträge, so nimmt man an, gelten ohne Wenn und Aber. Viele reagieren empört, als Unternehmen wie Adidas die Mietzahlungen einstellen wollen. Aber es ist gar nicht klar, ob Ladenvermieter den Mietpreis ungekürzt verlangen können, wenn die Läden schließen müssen. Bis ins 19. Jahrhundert war das Gegenteil selbstverständlich; und auch heute gibt § 313 BGB dem Mieter ein Recht auf Vertragsanpassung, wenn „Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind“, sich „schwerwiegend verändert“ haben. Freilich gilt dies nur soweit das „zumutbar“ ist. Was zumutbar ist, ist nicht zuletzt eine Frage gesellschaftlicher Überzeugungen, wer welche Risiken tragen und Rücksicht nehmen soll. Gerichte könnten solche Normen besser anwenden, wenn die Gesellschaft hier über einen Kompass verfügte. Gleiche Probleme stellen sich bei den Ballettschulen, Fußballvereinen, Opernabonnements, und angezahlten Sommerurlaubsreisen. Wem ist eigentlich damit gedient, wenn, wie viele annehmen, entfallene Aufführungen und Unterrichtsstunden ersetzt und geleistete Anzahlungen rückerstattet werden? Wäre es nicht schön, wenn es auch im nächsten Jahr noch Opernhäuser, Ballettschulen, Fußballvereine und Hotels gäbe? Vielleicht sollten wir einander einfach zumuten, auf Rückerstattungsansprüche zu verzichten.

Der säkulare Glaube unserer Religionen bietet jedenfalls keine Orientierung. Auch Kirchenväter und -mütter glauben nicht mehr, Messfeiern, Bittprozessionen oder gemeinsame Freitagsgebete könnten helfen. Früher hätte man die Anstrengungen vervielfältigt. Überhaupt haben die Kirchen wenig von sich hören lassen, obwohl doch einiges dazu zu sagen wäre, was Nächstenliebe heißen kann, wenn soziale Distanz das Gebot der Stunde ist. Demgegenüber hat die Politik rasch gehandelt. Man fürchtet apokalyptische Zustände und folgt deshalb den Empfehlungen von Virologen und Infektionsmedizinern. Der Shutdown geht freilich weit über das hinaus, was Juristen sich bis vor wenigen Wochen vorzustellen vermochten. § 28 Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für mehrwöchige bundesweite Ausgangssperren heranzuziehen, hätte schlicht als abwegig gegolten. Gleichwohl akzeptiert die Bevölkerung die Maßnahmen der Regierung als richtig. Dabei werden schon jetzt Existenzen vernichtet – wirtschaftlich wie menschlich. Nicht nur Betriebe gehen in die Insolvenz: Bereits nach wenigen Tagen war der Platz in Frauenhäusern knapp, und dass Kinder von ihren Eltern grün und blau geschlagen werden, weil diese in ihrer Dreizimmerwohnung mit der drohenden Arbeitslosigkeit nicht fertig werden, nimmt man hin. Von den abgebrochenen Bildungsperspektiven von Kindern, deren häusliche Arbeit nicht von Eltern überwacht wird, spricht man nicht.

Manche Fragen, die im Gespräch zu zweit laut werden, lassen populistische Obertöne anklingen, wenn es etwa heißt, dass Studenten und Studentinnen als Erntehelfer einspringen sollten. Die Spargel- und Erdbeerversorgung der Bevölkerung ist gewiss ein Luxusproblem. Aber wie lange bleiben arbeits- und sozialstaatliche Standards gültig, wenn die Versorgung ernsthaft gefährdet wird, weil der Lebensmittelindustrie die osteuropäischen Arbeiter fehlen? Von Medizinstudenten erwarten viele, dass sie in der Krankenversorgung einspringen, wenn Notzeiten kommen, und es scheint, als machten hier praktisch alle mit. Warum gelten solche Erwartungen nicht auch für andere (Studenten-)Gruppen, wenn der Schuh drückt? Und weiter: Wenn jetzt die Fließbänder stillstehen und im Sommer ohnehin kein Urlaub gemacht werden kann, weil Flugzeuge nicht fliegen und Grenzen geschlossen bleiben: Spricht dann noch viel dagegen, den Shutdown zumindest teilweise als Betriebsferien anzurechnen? Darf die Gesellschaft hier von den Arbeitern und ihren Gewerkschaften eine ähnliche Flexibilität erwarten wie gewerbliche Mieter von Vermietern? Man kann solchen Fragen nicht ausweichen. Denn die Kräfte des Staats sind endlich – in den Nachtragshaushalt sind die absehbaren massiven Ausfälle bei Steuern und Sozialausgaben ja noch gar nicht mit eingerechnet.

Nach den Virologen und Infektionsmedizinern melden sich auch andere Experten zu Wort. Verfassungsrechtler weisen auf die Grenzen von Grundrechtseingriffen hin; sie betonen, dass Maßnahmen verfassungswidrig sein können, wenn sie ohne zwingenden Grund die Gesamtbevölkerung erfassen, anstatt spezifisch die besonders Gefährdeten zu schützen. Ökonomen betonen, dass auch Rezessionen töten – man kann das an Suizidstatistiken ablesen – und beklagen, dass eine Diskussion über Kosten und Nutzen tabu sei. Die allseits begrüßten Handlungsempfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften kennen ein solches Tabu freilich nicht. Etwa erforderliche intensivmedizinische Verteilungsentscheidungen werden nicht auf Coronapatienten beschränkt bleiben, sondern alle intensivmedizinisch behandelten Patienten erfassen. Möglicherweise wird also die Behandlung schwerkranker Patienten abgebrochen, wenn das Beatmungsgerät für Coronapatienten mit besserer Prognose benötigt wird. Aber gilt diese universale Logik gerechter Verteilung nur auf der Intensivstation? Solche Expertendiskurse zeigen vor allem eines: die unterschiedlichen Binnenrationalitäten unterschiedlicher Disziplinen. Aber eine Gesellschaft muss sich zwischen diesen Rationalitäten orientieren und zu übergreifenden Maßstäben finden. Um Leben und Tod geht es nicht nur im Krankenhaus.

Nach der Weltgesundheitsorganisation, um nur ein konkretes Beispiel zu nennen, waren 2016 mehr als 550.000 Todesfälle in Europa auf Auswirkungen von Luftverschmutzung zurückzuführen. Warum reagieren wir auf solche Zahlen ganz anders als bei Corona? Offenbar gilt hier eine Logik der Ökonomie und der Gewöhnung. Sonst wären luftreinhaltende Fahrverbote ebenso selbstverständlich wie infektionsvorbeugende Kontaktverbote. Warum erwarten wir von Mitbürgern nicht, den Nahverkehr zu nutzen, auch wenn das umständlicher ist als mit dem Wagen zu fahren? Warum fahren überhaupt noch Autos, die nicht höchsten Euro-Standards genügen? Wahrscheinlich nimmt die öffentliche Meinung Umweltverschmutzungstote anders wahr als Coronaopfer. Wenn jemand stirbt, der mit Corona infiziert ist, gilt sein Tod als Infektionsfolge, auch wenn er 92 Jahre alt war und unter Diabetes und Bluthochdruck litt. Wenn ein Innenstadtbewohner an einer umweltbedingten Atemwegserkrankung, Herzkrankheit oder einem Schlaganfall stirbt, sagt aber niemand, er habe eine Feinstaub-, Ozon- oder Stickstoffoxydvergiftung erlitten. Aber das ist einfach nur irrational, denn die Kausalitäten sind hier wie dort konstruiert. Kann eine aufgeklärte Gesellschaft hinnehmen, dass Kausalitätsbeschreibungen und Gewöhnungseffekte ihr moralisches Werten und Handeln derartig grundlegend steuern? Es ist nicht unmoralisch zu fragen, ob Geld und weitreichende Verhaltenseinschränkungen, wie sie jetzt zur Bekämpfung der Coronakrise eingesetzt werden, nicht viel mehr Menschenleben um viele Jahre verlängert hätten, wenn diese Mittel zur Luftreinhaltung eingesetzt würden. Wer die jetzigen Maßnahmen für richtig hält, wird nach der Krise den jungen Leuten, die freitags demonstrieren, kaum zurufen können, ihre Forderungen seien überzogen und unzumutbar. Wir schulden unseren Kindern und Enkeln doch eine gleiche Rücksicht wie unseren Eltern.

Es ist unpopulär geworden, solche Fragen im Modus öffentlicher Moral zu diskutieren. Die gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse des letzten Jahrzehnts kreisten eher um Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Inklusion oder um den Umgang mit Extremisten. Zwischen der „persönlichen Verantwortung“ des Verbrauchers, der sich – um sich besser zu fühlen? – für Biofleisch entscheiden soll, und hoheitlicher Regulierung durch die Politik und ihre Experten erstreckt sich deshalb ein weites, leeres Feld. Und natürlich gibt es gute Gründe für Skepsis gegenüber einer öffentlichen Moralisierung privaten Verhaltens: Freiheit gedeiht nur, wo Menschen einander mit Toleranz begegnen. Aber die Gesellschaft – und das sind wir selbst – kann die moralische Bewältigung der aktuellen Herausforderungen nicht dauerhaft ihrer Regierung und deren Experten überlassen und hoffen, es werde schon vernünftig ausgehen. Denn in der Politik setzen unterschiedliche Interessen sich immer in ganz unterschiedlicher Weise durch. Man muss die Maßstäbe öffentlichen Handelns deshalb nicht nur vor dem Wahlbürger, sondern auch vor einem Forum öffentlicher Vernunft rechtfertigen. Mit anderen Worten: Es gilt auch hier wieder öffentlich zu diskutieren, nach gemeinsamen Maßstäben zu suchen. Regierungen kommen auf Dauer ebensowenig ohne den Kompass einer öffentlichen Moral aus wie die Gerichte.

Prof. Dr. Nils Jansen leitet das Institut für Rechtsgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ist Sprecher des dortigen Exzellenzclusters „Religion und Politik“.