Als sich das Recht von Religion und Politik emanzipierte
Rechtshistoriker Nils Jansen legt erste historische Gesamtschau zur Selbstbehauptung des Rechts gegenüber Religion, Politik und Wissenschaft vor – Eine Differenzierungsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart – „Heute sollte die Rechtswissenschaft Verkrustungen aufbrechen und Gerichten und Gesetzgebern in Europa innovative Impulse geben“
Der Münsteraner Rechtshistoriker Prof. Dr. Nils Jansen hat die erste Gesamtschau zum historischen Prozess der Selbstbehauptung des Rechts gegenüber Religion, Politik und Wissenschaft vorgelegt. Die Studie aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU zeichnet quellenreich nach, wie sich das Recht vom Mittelalter bis heute von anderen gesellschaftlichen Bereichen emanzipierte und zum eigenständigen Funktionsbereich wurde. Der verwickelte Differenzierungsprozess führte zum heute komplexen Verhältnis von Recht, Religion und Politik. „Hauptakteure waren dabei lange Zeit Professoren und später die Gerichte“, so der Autor und Sprecher des Exzellenzclusters, „das Recht fand somit seine Autonomie ursprünglich im Feld höherer Bildung.“ Die Studie „Recht und gesellschaftliche Differenzierung“, die jüngst im Verlag Mohr Siebeck erschien, füllt in der rechtshistorischen Forschung eine Lücke, da diese „oft mehr an der Beschreibung historischer Rechtsordnungen und an früheren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit interessiert ist, als daran, wie Juristen eine spezifische Eigenrationalität des Rechts gegenüber Religion, Politik oder Wirtschaft geltend gemacht und verteidigt haben.“
Der Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung führte im Mittelalter zunächst zur Trennung des Rechts von der Religion, wodurch erst eine professionelle Juristenzunft und Rechtswissenschaft entstehen konnte. In der frühen Neuzeit führte eine Vielzahl an Debatten zur heute „komplizierten Dreiecksbeziehung“ zwischen Recht, Wissenschaft und Politik. Eine heutige Folge der Differenzierungsgeschichte, so Nils Jansen, sei die Trennung von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, die die ursprünglich enge Verflechtung des Rechts und seiner Wissenschaft auseinanderbrechen lasse. Er sieht diese Entwicklung als Chance: Gerade in einer globalisierten Welt, in der das Recht nicht mehr an nationalen Grenzen ende, könne sich die Rechtswissenschaft künftig selbstbewusst von der nationalen Rechtspraxis emanzipieren. Das gelinge, indem sie nicht mehr kurzatmig Gerichtsbeschlüssen hinterhereile und sie kommentiere, sondern grundsätzlichere Reflexionen über Normen, Denkformen und Sprache des Rechts anstelle.
„Juristenausbildung künftig weniger anwendungs- als erkenntnisorientiert“
„Die Aufgabe der Rechtswissenschaft liegt darin, dogmatische Fehlentwicklungen und Verkrustungen zu identifizieren. Das verspricht innovative Impulse für Gerichte und Gesetzgeber.“ Nur wer so über die nationale Rechtspraxis hinausblicke, könne in einen internationalen Austausch über verschiedene Rechtstraditionen treten, um sie – wie im europäischen Rechtsraum dringend nötig – zusammenzuführen. „Darin liegt die Relevanz der Rechtswissenschaft.“ Der Autor plädiert dafür, die Ausbildung von Juristen an Universitäten von Rechtsprechungswissen zu entlasten und stärker methodenorientiert zu gestalten. Dazu gehöre insbesondere auch die juristisch-kritische Urteilsfähigkeit. Für die spätere Rechtspraxis seien diese methodischen Fähigkeiten wichtiger als Rechtsprechungskenntnisse.
Nils Jansen und der Hamburger Rechtswissenschaftler Reinhard Zimmermann haben als Mitherausgeber 2018 selbst ein Beispiel für die von ihm vorgeschlagene rechtsdogmatische Herangehensweise vorlegt: Nachdem die Vereinheitlichung des europäischen Vertragsrechts in der EU nicht gelang, analysierten die Wissenschaftler auf gut 2.000 Seiten in historisch-vergleichender Weise alle bisherigen Entwürfe für ein EU-Vertragsrecht. Das als „Commentaries on European Contract Laws“ (Kommentare zum Europäischen Vertragsrecht) veröffentlichte Ergebnis soll nicht zuletzt auch der Rechtsprechung und Politik künftig als Orientierung dienen, wenn es um eine europaweite Vereinheitlichung geht.
„Schließlich gingen Recht und Religion getrennte Wege“
Das Buch „Recht und gesellschaftliche Differenzierung“ beleuchtet in fünf Essays Wegmarken der Differenzierungsgeschichte des Rechts. Der erste Teil des Bandes widmet sich der Vormoderne. Er zeichnet zunächst nach, wie sich im Mittelalter die Rechtswissenschaft gegenüber der Religion behauptete, so dass nur noch rechtlich anerkannte Argumente, keine rechtsfremden galten. So entstanden die professionelle Juristenzunft und universitäre Rechtswissenschaft in Europa. In der Frühneuzeit begannen Juristen, verschiedene Rechtsarten zu unterscheiden wie positives Recht und das Natur- bzw. Vernunftrecht. Der Autor widmet sich besonders dem Naturrechtsdiskurs mit der Frage nach Inklusion des Rechts in das Lehrgebäude der Theologie. „Wäre das Naturrecht auf diese religiöse Logik umgestellt worden, hätte dies die Autonomie des Rechts wieder in Frage gestellt. Schließlich aber gingen Recht und Religion endgültig getrennte Wege“.
Der zweite Teil des Buches wirft die modernisierungstheoretische Frage auf, welche Rolle die Positivierung des Rechts für die Aufteilung moderner Gesellschaften in Funktionsbereiche wie Recht, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft spielte. Jansen zeichnet hier grundlegende Veränderungen in der „komplizierten Dreiecksbeziehung“ zwischen Recht, Wissenschaft und Politik seit dem 17. Jahrhundert nach. Dabei geht es um politische Elitenkonflikte hinsichtlich der Herrschaft über das Recht in der frühen Neuzeit, um politisch-juristische Grenzkonflikte zur Zulässigkeit richterlicher Verfassungskontrolle seit dem 19. Jahrhundert und schließlich um den Aufstieg des Rechtssprechungsrechts im 20. Jahrhundert.
Der Epilog des Buches befasst sich mit den Chancen einer stärkeren Trennung von Recht und Rechtswissenschaft. Die historische Rekonstruktion der Studie zeigt dem Autor zufolge, „dass übliche Differenzierungs- und Modernisierungserzählungen für das Recht über weite Strecken zu revidieren sind. Freilich ändert die Kontingenz der Geschichte nichts daran, dass sich einmal etablierte Differenzierungen später kaum noch zurücknehmen lassen.“ (vvm/maz)