Monografie „Kultur der Ambiguität“ auf Arabisch

Buch des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer für arabische Leser übersetzt

Buchcover
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© Al-Kamel Verlag

Die vielbeachtete Monographie „Die Kultur der Ambiguität“ des Arabisten und Leibniz-Preisträgers Prof. Dr. Thomas Bauer vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster ist in arabischer Übersetzung erschienen. In dem Buch beleuchtet der Islamwissenschaftler gut 1.000 Jahre arabisch-islamischer Kulturgeschichte – von Religion, Recht und Politik über Literatur und Kunst bis zum Umgang mit Sexualität und Minderheiten. Unter dem Titel Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams
(Arabisch:ثقافة الالتباس -  نحو تاريخ آخر للإسلام ) beschreibt er facettenreich die Fähigkeit arabisch-islamischer Gesellschaften, einander widerstreitende Normen nebeneinander stehen zu lassen. Der Autor veranschaulicht diesen Umgang mit der Ambiguität oder Mehrdeutigkeit anhand der Koranauslegung, der Sexualmoral und Dichtung sowie dem Recht und der politischen Debatten.

Der Islam sei über Jahrhunderte viel toleranter gegenüber unterschiedlichen Werten und Wahrheitsansprüchen gewesen, als oft angenommen, unterstreicht der Wissenschaftler. „Das Interesse an einem anderen Bild des Islams wächst heute in der arabischen Welt, ebenso unter Muslimen in Europa“, so Thomas Bauer. „Daher erscheint es an der Zeit, gerade mit Blick auf die jüngere Generation, wenn wissenschaftlich fundierte Darstellungen der Jahrhunderte alten islamischen Kultur auch dort zugänglich sind.“ Das Buch mit dem Untertitel „Eine andere Geschichte des Islams“ erschien erstmals 2011 im Berliner „Verlag der Weltreligionen“ und wurde vielfach positiv rezensiert. Die arabische Fassung, die von Rida Qutb stammt, ist im Al-Kamel Verlag mit Sitz in Köln, Beirut und Bagdad erschienen. Eine slowenische Übersetzung erschien 2014 im Verlag „Založba Krtina“ in Ljubljana. Für 2018 ist eine englischsprachige Ausgabe im Verlag „Columbia University Press” in New York in Planung.

So gehe ein moderner Philologe zuweilen davon aus, dass von zwei Textinterpretationen eine falsch sein müsse. Der muslimische Textexeget vergangener Zeiten hingegen habe die Mehrdeutigkeit mancher Textstellen für gottgewollt gehalten, „eine göttliche List, die die Menschen zu ständiger neuer Beschäftigung mit dem Text reizt“. Daher rühre auch die traditionelle Skepsis der Muslime gegenüber Koran-Übersetzungen, weil sich die Übersetzung auf eine von mehreren Bedeutungen festlegen müsse.

„Eindeutige Normen erst durch Kolonialismus“

„Das Image des Islams im Westen war seit den Kreuzzügen nie so schlecht wie heute“, schreibt der Arabist. Er will mit dem Buch das „Zerrbild“ eines politisch und religiös dogmatischen, intoleranten und prüden Islams widerlegen, das der Westen seit dem Zerfall des Ostblocks „als Ersatzfeind“ aufgebaut habe. „Erst der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts übte im Nahen Osten den Druck aus, sich über eindeutige Normen zu definieren, wie es der Westen tat“, so der Autor. Wenn der Islamismus heute einen engstirnigen Wahrheitsanspruch vertrete, zeige er damit eine vom Westen erlernte Geisteshaltung. „Es handelt sich nur scheinbar um einen Rückbezug auf ‚traditionelle islamische Werte‘.“ So halte man heute Vorstellungen für islamisch, die in Wahrheit Versatzstücke der viktorianischen Moral seien.

Der Autor hält es auch für falsch, von einer „Re-Islamisierung“ im 20. Jahrhundert zu sprechen. Beim Islamismus handele es sich vielmehr um die „Neuschaffung eines intoleranten, ideologischen Islams“, der den totalitären Strukturen früherer westlicher Ideologien folge, die unduldsam gegenüber einer Vielfalt an Anschauungen gewesen seien. Im Westen habe sich das nach 1968 verändert. „An der islamischen Welt aber ging dieser Aufbruch vorüber. Letztlich fehlt dem Islam nicht die Aufklärung, wie Europa sie im 18. Jahrhundert erlebte, sondern die 1968er-Revolte.“ (vvm/ill)

Die Kultur der Ambiguität in Beispielen

  • Koranauslegung: Der Koran enthält zahllose mehrdeutige Textstellen, wie der Arabist Thomas Bauer in seinem Buch verdeutlicht. Während islamische Gelehrte früherer Jahrhunderte die Varianten als Bereicherung empfunden hätten, sei sie Muslimen heute oft ein Ärgernis, beklagt der Autor. „Ob reformorientiert oder fundamentalistisch: Sie glauben stets, die wahre Bedeutung einer Koranstelle zu kennen.“
    Frühere Gelehrte zelebrierten regelrecht die Auslegungsvielfalt des Koran, so Bauer. Sie entwickelten nach seinen Angaben eine Methode, um das ganze Interpretationsspektrum zu erfassen, statt alleingültige Auslegungen festzulegen. Es handelte sich demnach um eine „Wahrscheinlichkeitstheorie“, durch die sich die Kategorien Richtig und Falsch vermeiden ließen. „So entstand ein geduldiges Aushandeln von Ambiguitätskonflikten“, schreibt der Autor. „Mit dem Tempo der einbrechenden Moderne des Westens konnte dieses Aushandeln aber nicht mehr mithalten, und es verschwand in dogmatisch-ideologischen Neukonstruktionen.“
  • Das Bild des Gelehrten: Meinungsverschiedenheiten zwischen Gelehrten galten in der klassischen Zeit des Islams als „Gnade für die Gemeinde“, wie Thomas Bauer darlegt. „Heute gelten sie vielen dagegen als auszumerzendes Übel.“ In früheren Jahrhunderten habe das Ideal eines frommen, gottergebenen Gelehrten gleichberechtigt neben dem Ideal eines eleganten, geistreichen Intellektuellen gestanden. Die säkulare Literatur solcher Denker stoße bei ihren modernen Erben jedoch auf großes Unverständnis.
  • Sexualität: Der Islam wird nach Beobachtung des Autors heute im Westen oft als „mittelalterlich“ und prüde bezeichnet. Dabei heiße es, er brauche eine sexuelle Revolution nach westlichem Vorbild. Doch die Historie zeigt laut Bauer ein anderes Bild: „Schon im 9. Jahrhundert verfassten arabische Mediziner Sexualratgeber. Sie setzten damit eine antike Tradition fort, die erst durch das Aufkommen des Christentums unterbrochen worden war. Über viele Jahrhunderte entstanden arabische sexualhygienische Leitfäden, die sachlich und ohne moralische Bevormundung von Liebe und Sex handelten.“ Zwischen 800 und 1800 seien auch unzählige homoerotische Gedichte als anerkannter Teil der Hochliteratur entstanden. Diese Entwicklung endete erst, als man im 19. Jahrhundert im Westen auf die Texte aufmerksam wurde und „sie als Pornografie abwertete“.
  • Religion und Politik: Kein anderes Vorurteil hat nach Auffassung des Autors eine so verheerende Wirkung gehabt wie die Vorstellung, der Islam kenne keine Trennung von Staat und Religion. In Wahrheit habe es im Islam „zu jeder Zeit religionsfreie Zonen“ gegeben. Muslime hätten stets zwischen weltlichen und religiösen Dingen zu unterscheiden gewusst.
    In klassischer islamischer Zeit standen säkulare und religiöse Politik-Diskurse nebeneinander, wie Thomas Bauer betont. So finde sich nur eine Handvoll Bücher, die das Thema Herrschaft und Staat aus religiöser Perspektive behandeln. „Dagegen steht eine unüberschaubare Zahl an Gedichten zum Lob von Herrschern sowie eine große Zahl an Herrscherratgebern: Religion spielt darin eine untergeordnete Rolle.“
    Der Wissenschaftler spricht sich gegen eine heute verbreitete „Islamisierung des Islams“ aus: Niemand solle dem Islam mehr Religiosität unterstellen als anderen Kulturen. Der oft zitierte Slogan, wonach Islam „Din wa-Daula“, also „Religion und Staat“ sei, kam laut Thomas Bauer erst im 19. Jahrhundert auf, als islamische Länder eine Ideologie suchten, die den starken westlichen Ideologien jener Zeit etwas entgegensetzen konnte. „Überhaupt entspringt der politisierte Islam der Gegenwart einer Geisteshaltung, die sich keineswegs aus traditionellen islamischen Schriften herleiten lässt. Vielmehr haben bei seiner Ausprägung westliche Vorbilder Pate gestanden.“
  • Recht: Das islamische Recht ist nach Aussage des Autors nicht so starr und dogmatisch wie heute oft dargestellt. „Vielmehr kennt es eine Vielzahl an Normen, die mehr als 1.300 Jahre lang im Alltag von Muslimen erfreulich flexibel angewendet wurde.“ Der Wahrheitsanspruch sei unter Rechtsgelehrten oft hintangestellt worden. Unsicherheit und Widersprüchlichkeit hätten sie nicht ausgemerzt, sondern in Form einer Wahrscheinlichkeitstheorie gezähmt. Durch die Herausforderungen des zunehmend dominierenden Westens hätten Muslime jedoch begonnen, ihr Recht zu ideologisieren und politisieren. „Fundamentalisten und prowestliche Reformmuslime behaupten heute gleichermaßen, das islamische Recht sei eindeutig auszulegen.“
  • Dichtung und Rhetorik: Arabische Dichter kultivierten über Jahrhunderte raffinierte Formen mehrdeutiger Ausdrucksweisen, wie der Islamwissenschaftler in seinem Buch an vielen Beispielen zeigt. Arabische Sprachwissenschaftler und Rhetoriker sammelten mehrdeutige Wörter und analysierten Stilmittel der Ambiguität. „So entstanden Hunderte von Werken der Rhetorik. Dichter, Gelehrte, Händler, Handwerker und Volksdichter verfassten zigtausende von Gedichten und Prosatexten, in denen sich alle erdenklichen Arten von Ambiguität lustvoll austoben durften.“ Das sei wie ein „Ambiguitätstraining“ gewesen, damit die Menschen auch in anderen Lebensbereichen Mehrdeutigkeit akzeptieren konnten. Heute sähen viele Araber und Orientalisten diese Vielfalt hingegen „als sicheres Zeichen für den Niedergang des Islams“.

Zur Theorie der Ambiguitätstoleranz

Der aus der Psychologie stammende Begriff der Ambiguitätstoleranz bezeichnet das Vermögen eines Menschen, Mehrdeutigkeit auszuhalten, also einander widerstreitende Werte und Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen, ohne auf die Geltung der eigenen Überzeugung zu pochen.

Prof. Dr. Thomas Bauer
Prof. Dr. Thomas Bauer
© Julia Holtkötter

Das Konzept der Ambiguitätstoleranz lässt sich auf die Kultur- und Mentalitätsgeschichte übertragen, wie Thomas Bauer in seinem Buch zeigt: Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch stark darin, wie sie mit der Mehrdeutigkeit umgehen. Manche Kulturen vermeiden oder bekämpfen Ambiguität. Andere weisen einen hohen Grad an Ambiguitätstoleranz auf. So wurde im Islam Zweideutigkeit lange hingenommen, ja mitunter bewusst erzeugt. Sie nahm wichtige kulturelle Funktionen ein, etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie, durch Riten oder Kunstwerke. Seit dem 19. Jahrhundert zeigte sich in islamischen Kulturen jedoch ein Wandel, der so deutlich und mit so drastischen Konsequenzen kaum anderswo auftrat: von einer relativ großen Toleranz hin zu einer bisweilen extremen Intoleranz gegenüber allen Phänomenen von Vieldeutigkeit und Pluralität.

Wer dem Konzept der kulturellen Ambiguität in der Mentalitätsgeschichte folgt, vermag nach Auffassung von Thomas Bauer den eurozentrischen Blickwinkel zu verlassen und Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, um die es geht. So komme man zu einer alternativen, nicht ziel- und zweckgerichteten Geschichtserzählung. Daher ist auch der Untertitel des Buches „Eine andere Geschichte des Islams“ mehrdeutig zu lesen, wie Bauer hervorhebt. Nicht eine andere Geschichte (history) des Islams erzählt er, sondern eine andere Geschichte (story), in der zugleich scheinbare Selbstverständlichkeiten der westlichen Kultur in Frage gestellt werden. (vvm)

Der Autor

Thomas Bauer, geboren 1961, seit 2000 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Seit 2007 Hauptantragsteller am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster und von 2007-2012 Vorstandsmitglied; derzeit Leitung des Forschungsprojektes B2-3 „Am Schnittpunkt der Diskurse. Ibn Nubata al-Misri (1287-1366) und die Kultur der Ambiguität“. 2002-2006 Direktor des „Centrums für Religiöse Studien“ (CRS) der Universität Münster. 2006-2007 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. 2012 Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste. 2013 Auszeichnung mit dem „Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis“ der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mentalitätsgeschichte der arabisch-islamischen Welt, klassische arabische Literatur.

Hinweise:

  • Arabische Ausgabe: Bauer, Thomas: ثقافة الالتباس -  نحو تاريخ آخر للإسلام    (Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams), Köln u.a.: Al-Kamel 2017.
  • Deutsche Ausgabe: Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011.
  • Slovenische Ausgabe: Bauer, Thomas: Kultura dvoumnosti. Drugačna zgodovina islama, Ljubljana: Založba Krtina 2014.
  • Englische Ausgabe: Bauer, Thomas: The Culture of Ambiguity – An alternative History of Islam, New York (Columbia University Press), erscheint 2018.

Das Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

  1. Einleitung
  2. Kulturelle Ambiguität (Zum Begriff der kulturellen Ambiguität/ Ambiguität in Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft/ Ambiguitätstoleranz in der Psychologie/ Ambiguität in den Geschichts- und Sozialwissenschaften/ Formen kultureller Ambiguität im Islam)
  3. Spricht Gott mit Varianten? (Ambiguitätskrisen und Ambiguitätszähmung/ Ibn al-Djazarı¯s Geschichte des Korantextes/ Eine salafitische Geschichte/ Die unerschöpfliche Vielfalt der Lesarten/ Vielfalt als Gnade/ Vielfalt als Ärgernis/ Die postmoderne Tradition)
  4. Spricht Gott mehrdeutig? (Die Unerschöpflichkeit des Korans/ Die Theologisierung des Islams)
  5. Die Gnade der Meinungsverschiedenheit (Die Wahrscheinlichkeitstheorie der Überlieferung/ Die Wahrscheinlichkeitstheorie des islamischen Rechts/ Das Geschenk der Pluralität)
  6. Die Islamisierung des Islams
  7. Sprachernst und Sprachspiel (Wörter mit Gegensinn/ Raffinement und Frömmigkeit/ Ambiguität als Stigma/ Ambiguitätstraining)
  8. Die Ambiguität der Lust (Ein aufgezwungener – und paradigmatischer – Diskurs/ Der westliche Sex und seine Ambiguitäten/ Die nahöstliche Diskurspluralität/ Sex mit Universalitätsanspruch/ Die Hegemonie des westlichen Diskurses)
  9. Der gelassene Blick auf die Welt (Die Perspektivität der Werte/ Politik mit und ohne Religion/ Die Ambiguität des Fremden)
  10. Auf der Suche nach Gewissheit (Das Zeitalter des islamischen Skeptizismus/ Sonderwege)