„Unmittelbare Wirkmächtigkeit“
Musikwissenschaftler Heidrich über das Kirchenlied als Medium der Reformation
Über das Kirchenlied als Medium der Reformation hat der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Heidrich in der Ringvorlesung „Musik und Religion“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ gesprochen. „Das Kirchenlied gilt explizit als Erfindung Martin Luthers, es wird als genuin neue und eigenständige reformatorische Gattung verstanden und war außerordentlich wirkmächtig“, erläuterte der Forscher vom Institut für Musikwissenschaften der WWU. An der Basis habe sich die Reformation gerade nicht mithilfe „komplexer liturgischer Verfahren in einem dezidiert theologisch-hermetischen Milieu“ vollzogen, sondern vermittels der populären Gattung des deutschsprachigen Kirchenlieds. Der Vortrag trug den Titel „Lieder der Reformationszeit: konfessionelle, politische und gesellschaftliche Implikationen“.
„Längst nicht von Anfang an waren die Lieder der Reformatoren als gottesdienstliche Gemeindelieder intendiert, weder im Sinne einer flächendeckenden, sämtliche Bedürfnisse des liturgischen Jahreskreises abdeckenden Ausstattung, noch als Substitut der lateinischen Liturgie“, so Prof. Heidrich. Vielmehr erscheinen die frühen Liedschöpfungen zunächst als außerkirchliches, mediales Phänomen: Kreise und Bevölkerungsanteile, die mit der Reformation sympathisierten und für sie gewonnen werden sollten, konnten damit erreicht werden. „Für das Kirchenlied spricht dessen unmittelbare Wirkmächtigkeit, die einfache, strophische Versstruktur sowie der Rekurs Luthers und seiner Mitstreiter auf bekannte vorreformatorische Melodien“, so der Wissenschaftler. Mit dem Lied habe sich die Möglichkeit eröffnet, spezifisch reformatorische Anliegen in den entsprechenden Liedtexten allgemeinverständlich zu artikulieren.
„Vielschichtiger Kommunikationsprozess“
Prof. Heidrich nahm die mediale Verbreitung reformatorischer Ideen auch übergreifend in den Blick: „Die reformatorische Bewegung als einen vielschichtigen Kommunikationsprozess aufzufassen, ist in der Forschung unstrittig.“ Insbesondere die Frühzeit der Reformation sei in ihrem Verlauf und ihrer Dynamik durch Kommunikation gekennzeichnet gewesen, was sowohl den Austausch von Mitteilungen als auch die Verständigung über diese einschließe. „Für die beteiligten politischen wie religiösen Parteien und Strömungen erschien es unabdingbar, eine ‚reformatorische Öffentlichkeit‘ nicht nur herzustellen, sondern diese in die Gestaltungsprozesse einzubinden und im weiteren Sinne insbesondere für die eigene Position zu gewinnen.“ So hat sich in der Forschung mit Blick auf die reformatorische Bewegung die Vorstellung eines „kommunikationswissenschaftlichen Medienereignisses“ durchgesetzt, das durch den Wandel von einer „Kommunikation unter Anwesenden“ zur „medialen Kommunikation“ gekennzeichnet ist, wie der Wissenschaftler ausführte.
Zugleich sei ein anderer Transformationsprozess bemerkenswert, bei dem sich die Intention des Publikationswesens änderte. „Galt als wesentliche vorreformatorische Intention des Schrifttums die Vermittlung und Konservierung von Wissen, so wandelte sie sich hin zur Vermittlung von aktuellen Meinungen, teils gegen erhebliche Widerstände und regelrechte Zensur“, so der Musikwissenschaftler. Zu den wichtigsten Zentren des Publikationswesens zählten Augsburg, Basel, Leipzig, Nürnberg und Straßburg, später entwickelte sich die Reformationsstadt Wittenberg hinter Augsburg zum bedeutendsten Produktionsort reformatorischen Schrifttums. „Der Kommunikationsprozess der Reformation war vor allem ein ‚urban event‘, weil sie eine ‚reformatorische Öffentlichkeit‘ insbesondere in den Städten erreichen konnte.“ (maz/ill)