„Hälfte der Türkeistämmigen fühlt sich nicht anerkannt“
Emnid-Umfrage unter Türkeistämmigen in Deutschland: Hohes allgemeines Wohlbefinden, aber weit verbreitetes Gefühl mangelnder sozialer Anerkennung – Vehemente Verteidigung des Islam – Fundamentalistische Haltungen verbreitet – Kulturelle Selbstbehauptung besonders in der zweiten und dritten Zuwanderer-Generation – Exzellenzcluster der Universität Münster führt eine der bisher umfassendsten Befragungen Türkeistämmiger über Integration und Religiosität durch
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 16. Juni 2016
90 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland fühlen sich nach einer repräsentativen Emnid-Umfrage wohl im Land, doch mehr als die Hälfte sieht sich sozial nicht anerkannt. „Das Bild von der persönlichen Lebenssituation der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen ist positiver, als man es angesichts der vorherrschenden Diskussionslage zur Integration erwarten würde“, sagte der Leiter der Studie „Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland“ aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster, Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack, am Donnerstag in Berlin. Auch Gefühle der Benachteiligung seien unter den Türkeistämmigen nicht weiter verbreitet als in der Gesamtheit Deutschlands. Etwa die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass sie im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, ihren gerechten Anteil erhalten. In der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland sind es nicht mehr, die das von sich sagen, im Osten sogar weniger.
„Woran es aber unter den in Deutschland lebenden Türkeistämmigen mangelt, ist das Gefühl, willkommen geheißen und anerkannt zu sein“, führte der Leiter der Studie aus. Gut die Hälfte der Zuwanderer aus der Türkei und ihrer Nachkommen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, egal wie sehr sie sich anstrengen dazuzugehören. Für die repräsentative Erhebung, eine der umfassendsten Befragungen Türkeistämmiger über Integration und Religiosität, befragte TNS Emnid im Auftrag des Exzellenzclusters gut 1.200 Zuwanderer aus der Türkei und ihre Nachkommen ab 16 Jahren. Die Befragten der ersten Generation leben im Durchschnitt seit 31 Jahren in Deutschland. 40 Prozent der Befragten wurden in Deutschland geboren.
Vehemente Verteidigung des Islam
Der Mangel an sozialer Anerkennung steht in Zusammenhang mit einer teilweise vehementen Verteidigung des Islam, wie der Leiter der Studie sagte. Im scharfen Gegensatz zur Haltung der Mehrheitsbevölkerung schreiben die Türkeistämmigen dem Islam vor allem positive Eigenschaften wie Solidarität, Toleranz und Friedfertigkeit zu. 83 Prozent der Zuwanderer und ihrer Nachkommen erklären, es mache sie wütend, wenn nach einem Terroranschlag als erstes Muslime verdächtigt werden. Drei Viertel plädieren für ein Verbot von Büchern und Filmen, die die Gefühle tief religiöser Menschen verletzen. Zwei Drittel der Befragten denken, der Islam passe durchaus in die westliche Welt, während 73 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland das Gegenteil meinen.
„Offenbar liegen die Integrationsprobleme stark auf der Ebene der Wahrnehmung und Anerkennung. So wichtig es ist, eine Wohnung und Arbeit zu haben, so wichtig ist es, dass die Bevölkerung den Zugewanderten mit Wertschätzung begegnet. Aus Sicht der muslimischen Minderheit handelt es sich beim Islam um eine angegriffene Religion, die vor Verletzungen, Vorurteilen und Verdächtigungen zu schützen ist.“
Islamisch-fundamentalistische Einstellungen verbreitet
Zugleich lassen die Ergebnisse der Umfrage einen beträchtlichen Anteil an islamisch-fundamentalistischen Einstellungen erkennen, die schwer mit den Prinzipien moderner Gesellschaften zu vereinen sind, wie der Soziologe darlegte. Die Hälfte der Befragten stimmt dem Satz zu „Es gibt nur eine wahre Religion“. 47 Prozent halten die Befolgung der Islam-Gebote für wichtiger als die deutschen Gesetze. Ein Drittel meint, Muslime sollten zur Gesellschaftsordnung aus Mohammeds Zeiten zurückkehren. 36 Prozent sind überzeugt, nur der Islam könne die Probleme der Zeit lösen. Prof. Pollack betonte, der Anteil derer mit verfestigtem fundamentalistischem Weltbild liege immerhin bei 13 Prozent.
Grafiken zur Studie
Allerdings sieht das Forscherteam unter Leitung des Soziologen beachtliche Unterschiede zwischen der ersten Generation, das heißt denjenigen, die als Erwachsene nach Deutschland eingewandert sind, und der zweiten und dritten Generation, also denjenigen, die in Deutschland geboren wurden oder als Kind kamen. Der Anteil mit fundamentalistischem Weltbild liegt in der ersten Generation bei 18 Prozent, in der zweiten und dritten nur noch bei 9 Prozent. Auch sind es unter den Befragten der ersten Generation mehr, die den Glauben sehr streng leben: Während 27 Prozent von ihnen meinen, Muslime sollten einem Menschen des anderen Geschlechts nicht die Hand schütteln, denken dies 18 Prozent der zweiten und dritten Generation. Dass Frauen ein Kopftuch tragen sollten, meinen in der ersten Generation 39 Prozent, in den Folgegenerationen 27 Prozent. Auch der Anteil der muslimischen Frauen, die tatsächlich ein Kopftuch tragen, geht von 41 auf 21 Prozent zurück.
„Folglich kann die Popularität fundamentalistischer Haltungen künftig weiter sinken, sofern die Integration der jüngeren Zuwanderergeneration weiter gut verläuft.“ Als wichtigste Einflussfaktoren gegen fundamentalistische Meinungen kristallisierten sich in der Studie häufige Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft, gute Deutschkenntnisse und die Einbindung in den Arbeitsmarkt heraus. Hinderlich sind Kontakte vorwiegend innerhalb der muslimischen Gemeinschaft sowie das verbreitete Gefühl mangelnder Anerkennung.
Zweite und dritte Generation besser integriert, pocht aber mehr auf Selbstbehauptung
Die Türkeistämmigen der zweiten und dritten Generation fühlen sich laut der Umfrage mit 43 Prozent weniger durch die Mehrheitsgesellschaft abgelehnt als die erste Generation mit 65 Prozent. Auch sind die Angehörigen der zweiten und dritten Generation in vielem besser integriert, wie Zuwächse bei Schulabschlüssen, Deutschkenntnissen und Kontakten zu Deutschen zeigen. „Allerdings pocht die zweite und dritte Generation weit mehr auf kulturelle Selbstbehauptung als die erste“, sagte der Soziologe. Dass sich Muslime an die deutsche Kultur anpassen sollten, meinen 72 Prozent der älteren Generation und 52 Prozent der jüngeren. 86 Prozent der zweiten und dritten Generation denken, man solle selbstbewusst zur eigenen Herkunft stehen, aber nur 67 Prozent der ersten Generation.
„Obwohl die in Deutschland Geborenen oder als Kind Eingewanderten besser integriert sind, schlägt das Pendel bei ihnen mehr in Richtung Selbstbehauptung aus als bei denen, die als Erwachsene kamen“, sagte der Forscher. Das lasse sich als Abgrenzung der Jüngeren von den Älteren erklären sowie mit höheren Ansprüchen an Bildung und Lebensgestaltung.
„Beide Seiten sind gefragt, ihre Haltung zu ändern“
„Politik und Zivilgesellschaft sollten dringend mehr Kontakte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen fördern“, unterstrich der Wissenschaftler. „Ob in Sportvereinen, Schulen, Bildungshäusern, Kirchen- oder Moscheegemeinden: Sie sollten sich treffen, gemeinsam aktiv werden, vorurteilsfrei diskutieren oder feiern. Signale mangelnden Respekts und verweigerter Anerkennung sind zu vermeiden.“
„Beide Seiten sind gefordert“, sagte Prof. Pollack. „Die deutsche Mehrheit sollte mehr Verständnis für die spannungsreiche Lage der Türkeistämmigen – zwischen Herkunftsprägung und Anpassung – aufbringen.“ Sie solle differenziert wahrnehmen, dass die Mehrheit der Zugewanderten keine fundamentalistische Einstellung aufweise. Die Türkeistämmigen wiederum sollten auf Vorbehalte nicht nur empört reagieren, sondern sich auch kritisch mit den gleichwohl anzutreffenden fundamentalistischen Tendenzen in den eigenen Reihen auseinandersetzen. (vvm)