„Arabische Bevölkerungen sehen EU mehrheitlich kritisch“
Studie des Exzellenzclusters untersucht erstmals skeptische Haltung arabischer Bevölkerungen zur Europäischen Union – Weit mehr Skepsis als in Asien, Afrika oder Lateinamerika – Wichtiger Grund ist die Ablehnung externer Einmischung in nationale Belange – Kritisches EU-Bild in zwölf untersuchten Ländern geht nicht auf die eigene Religion des Islams zurück – Empfehlung der Politikwissenschaftler: EU sollte im arabischen Raum „nicht von oben herab“ agieren
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 2. Dezember 2016
Die Menschen in arabischen Ländern sehen die Europäische Union (EU) nach einer neuen Studie des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ mehrheitlich kritisch. „In nahezu allen untersuchten Staaten schätzt eine Minderheit der Befragten – zwischen 10 und 45 Prozent – die EU positiv ein“, sagt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Bernd Schlipphak vom Exzellenzcluster. „Diese skeptische Einstellung steht im Kontrast zu unseren früheren Befunden, wonach die Bevölkerung in Ländern Lateinamerikas, Asiens und des sub-saharischen Afrika die EU im Durchschnitt zu mehr als 70 Prozent sympathisch finden.“ Einer der wichtigsten Gründe für die Ablehnung der EU im arabischen Raum ist nach der neuen Studie, dass die Mehrheit der Befragten eine Einmischung von außen ablehnt. „Je stärker der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung in der Bevölkerung ist, nicht zuletzt nach dem Arabischen Frühling, desto negativer die EU-Wahrnehmung.“ Der intensive Wunsch nach staatlicher Souveränität wurzele auch in der Kolonialzeit, als Europäer in der Region viel Einfluss nahmen. „Die Religion hingegen spielt für die EU-Skepsis in den islamisch geprägten Ländern keine so starke Rolle, wie bisher angenommen“, so Prof. Schlipphak. „Unsere Analysen deuten darauf hin, dass die EU-Wahrnehmung nicht durch die Nähe zu einem religiösen Führer beeinflusst wird.“
Am Exzellenzcluster sind vertiefende Studien zum Einfluss der Religion auf die Haltung gegenüber der EU und anderen internationalen Organisationen geplant, etwa zur Kommunikation religiöser Eliten und zur persönlichen Religiosität. Weitere Gründe für eine kritische EU-Haltung in der arabischen Bevölkerung sind der neuen Untersuchung zufolge das fehlende Vertrauen in andere politische Institutionen, etwa die eigene Regierung, eine kritische Einstellung zu den USA, eine negative Einschätzung der Wirtschaftslage des eigenen Landes und eine wenig weltoffene Haltung der Befragten. Das Forschungsprojekt unter Leitung von Bernd Schlipphak hat erstmals die Gründe für die ablehnende EU-Haltung in der gesamten Bevölkerung von zwölf arabischen Ländern analysiert; bislang hatte die Forschung hierzu nur Eliten-Meinungen ausgewertet. Untersucht wurden die Länder Jordanien, Palästina, Libanon, Ägypten, Sudan, Algerien, Marokko, Jemen, Kuweit, Libyen, Tunesien und Irak.
„EU sollte Befindlichkeiten in der Bevölkerung ernst nehmen“
Der Politikwissenschaftler empfiehlt der EU angesichts der Forschungsergebnisse, „die Befindlichkeiten in der Bevölkerung ernst zu nehmen, wenn es um die außenpolitischen Ziele der EU in arabischen Ländern geht“. Demokratisierung und gesellschaftliche Liberalisierung, eine wichtige Voraussetzung auch für stabile Wirtschaftsbeziehungen, ließen sich nur „durch Unterstützung von Projekten aus der Zivilgesellschaft, das heißt Bottom-up, nicht von oben, Top-down, verwirklichen“. Die Projektergebnisse aus der ersten empirischen Analyse der arabischen EU-Wahrnehmung, die Schlipphak gemeinsam mit Ko-Autor und Projektmitarbeiter Mujtaba Isani durchgeführt hat, sind jüngst im renommierten „Journal of Common Market Studies“ erschienen. Dazu hat das Projektteam Ergebnisse des repräsentativen „Arab Barometer“ (AB) von 2013 und 2014 ausgewertet, mit dem die Princeton University, die University of Michigan und die Arab Reform Initiative politische Haltungen in der arabischen Welt erheben.
Negative Gefühle zur eigenen Regierung werden auf EU übertragen
„In anderen Regionen der Welt bestimmen wirtschaftliche Erwartungen und das Vertrauen in nationale politische Institutionen die Wahrnehmung internationaler Organisationen. In arabischen Ländern leitet sie sich zudem vom kulturell verankerten Ideal der Würde ab“, führt Prof. Schlipphak aus. „Dabei steht der ideelle Wunsch nach individueller und nationaler Selbstbestimmtheit im Vordergrund.“ Die Mehrheit der Befragten plädierte zwar für internationale Zusammenarbeit. „Doch sie unterscheiden zwischen selbstbestimmter zwischenstaatlicher Kooperation und innenpolitischer Belehrung durch andere Länder und Organisationen.“
Wie in anderen Teilen der Welt sei in arabischen Ländern zu beobachten, „dass Bürgerinnen und Bürger ihre Gefühle zu den ihnen bekannten nationalen politischen Institutionen auf unbekannte internationale Akteure übertragen“. Doch sie vertrauten den politischen Akteuren ihres Landes weniger als Menschen in anderen Ländern der Welt, sagt Isani. „So wird auch die EU nicht als neutrale Alternative aufgefasst.“ Die Forschungsliteratur zur Haltung von Eliten außerhalb Europas zeige zudem, dass die EU „als Institution ein Glaubwürdigkeitsdefizit“ habe, fügt Schlipphak an. Das rühre aus einem Widerspruch: Die EU nehme sich selbst als „gute Macht“ wahr, werde von außen aber als Verhandlungspartner gesehen, der ausschließlich an eigenen Interessen orientiert sei. „Angesichts dessen wäre es problematisch, wenn die EU den Ländern Maßnahmen von oben aufzudrängen versucht.“
Den starken Wunsch nach nationaler Souveränität führen die Forscher nicht nur auf die Kolonialherrschaft zurück, sondern auch auf die Unterstützung autoritärer Herrscher durch westliche Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. „Heute ist der Wunsch nach Selbstbestimmung wesentlicher Bestandteil des arabischen politischen Diskurses, der nach dem Arabischen Frühling von 2011 wohl noch wichtiger wurde.“ Gleichzeitig fühlten sich die Menschen durch eine „panarabische Identität“ vereint, wie Mujtaba Isani erläutert. Die Forschung habe gezeigt, dass man sich länderübergreifend in der Ablehnung von Einmischungen durch externe Akteure einig sei. „Die potentielle Verletzung der Souveränität auch nur eines arabischen Staates beeinflusst die Wahrnehmung des externen Akteurs in der gesamten Region.“
Offen bleibt in der Studie, wie sich teils große Unterschiede in der durchschnittlichen EU-Bewertung der zwölf verschiedenen Länder erklären lassen. Beispielsweise sehen lediglich 11 Prozent der Algerier, aber knapp 60 Prozent der Marokkaner die EU positiv. Weitere Studien, so Schlipphak und Isani, sollten daher den Einfluss realpolitischer Ereignisse und die Beziehung der einzelnen Länder zur EU als mögliche Einflussfaktoren einbeziehen. Die Studie des Exzellenzclusters füllt eine Forschungslücke, da die Haltung nicht-europäischer Öffentlichkeiten zur EU und anderen internationalen Organisationen bislang kaum erforscht wurde. (ska/vvm)