Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte legt Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in seinem neuen Buch „Krypta“ dar. An zehn Beispielen präsentiert das Werk, das im C.H.Beck Verlag erschienen ist, „verdrängte oder vergessene Verwirklichungen des Katholischen, die zum Vorbild für zukünftige Reformen taugen“, wie der Theologe erläutert. In den verborgenen Gewölben der Kirchengeschichte seien etwa vom Volk gewählte Bischöfe, mächtige Kirchenfürstinnen und Laien zu finden, die von Sünden lossprechen konnten. „Die Kirche der Vergangenheit ist ganz anders, als wir denken. Sie hält Modelle bereit, die für mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr Gleichberechtigung stehen“, sagt Prof. Wolf. Klug umgesetzt, könnten diese Ideen das Gesicht der Kirche entscheidend verändern.
Der Kirchenhistoriker greift in seinem Buch aktuelle Themen auf: den Rücktritt Benedikts XVI., die Namenswahl von Papst Franziskus, umstrittene Besetzungen von Bischofsstühlen, die Piusbruderschaft, die Regensburger Rede des Papstes und die Residenz des ehemaligen Limburger Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst. Die Skandale der vergangenen Jahre sind nach Einschätzung des Wissenschaftlers nicht allein auf persönliches Versagen zurückzuführen. Sie hätten ihre eigentliche Ursache in den veralteten Strukturen der Ämter und Entscheidungswege in der katholischen Kirche. „Der Blick in die Vergangenheit hat daher auch etwas Subversives – denn die Stellung des Papstes, der Bischöfe und des Klerus war nicht immer so unantastbar wie heute.“
Der Kirchenhistoriker will sich mit dem Buch auch gegen das Geschichtsbild fundamentalistischer Katholiken wenden, wie er sagt. „Sie beschwören einen Einheitskatholizismus, den erst das Zweite Vatikanische Konzil zerstört habe. Doch den hat es nie gegeben.“ Das Verhältnis zwischen dem Papst, den Konzilien, den Kardinälen, den Priestern, den Mönchen und Nonnen sowie den einfachen Gläubigen in den Gemeinden sei oft ganz anders gewesen, als es die konservative Geschichtsschreibung glauben machen wolle. „Viele Möglichkeiten wurden erst im 19. und 20. Jahrhundert systematisch unterdrückt und vergessen.“ Die katholische Kirche sei überraschend vielfältig und wandelbar gewesen. „Es gab und gibt keine ideale Ausprägung von Kirche. Kirche hat sich immer verändert und muss sich weiter verändern.“
In Papst Franziskus setzt der Kirchenhistoriker große Hoffnungen. „Schon die Tatsache, dass er sich nach dem heiligen Franz von Assisi benannt hat, ist revolutionär.“ Der Heilige stehe für die Idee der radikalen Armut in der Nachfolge Jesu – und für einen Gegenentwurf zur prunkvollen Papstkirche. „Mit Papst Franziskus ist dieser Gegenentwurf an der Spitze der katholischen Kirche angekommen.“ Seit Jahrhunderten habe außerdem kein Papst mehr so deutlich Kritik an der Kurie und an der Allzuständigkeit Roms geäußert. (exc/vvm)
Hinweis: Hubert Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. München: C.H. Beck 2015; 231 Seiten, ISBN: 978-3-406-67547-8, 19,95 Euro.
Inhaltverzeichnis
Zur Einleitung: „Wir alle sind abgewichen“
- Päpstliche Schuldbekenntnisse einst und jetzt
- Reform als Wesensmerkmal der Kirche
- In der Krypta der Kirchengeschichte
1. Der Bischof: Von allen gewählt
- „Der Papst ernennt die Bischöfe frei“
- Wie wird man Bischof? Ein Durchgang durch die Geschichte
- Was ist ein guter Bischof? „Nur einmal verheiratet“
2. Bischöfinnen: Frauen mit Vollmacht
- Mächtige Äbtissinnen
- Äbtissinnenweihe und Bischofsweihe
- Bischöfe und Kardinäle ohne Weihe
- Kardinalinnen: Seit dem Zweiten Vatikanum undenkbar?
3. Das Domkapitel: Kontrollorgan und Senat des Bischofs
- Der Bischof als absoluter Monarch
- Ausgerechnet Limburg: Ein kollegiales Gegenmodell
- Unterdrückung der kollegialen Leitung
4. Der Papst: Kollege und nicht gegen Fehler gefeit
- „Die höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt“
- Das Konstanzer Konzil: Oberhoheit des Konzils über den Papst
- Das Erste Vatikanum: Unfehlbarkeit und Primat des Papstes
- Die Ausblendung der konziliaren Option
5. Die Kardinäle: Gegengewicht zur päpstlichen Macht
- Die Williamson-Affäre: Ein Papst der einsamen Entscheidungen
- Kleine Geschichte der Kardinäle
- Ein vatikanischer Sicherheitsrat
- Die Entmachtung der Kardinäle im zwanzigsten Jahrhundert
- Optionen gegen den autokratischen Führungsstil
6. Mönche und Nonnen: Höchste Autorität durch radikale Nachfolge
- Der heilige Martin: Vollmacht ohne Weihe
- „Göttliche Kraft“ durch Askese
- Die Erfindung der Privatbeichte in Irland
- Amt statt Nachfolge?
7. Die Gemeinden: Primat der kleineren Einheit
- Subsidiarität: Ein Konzept der katholischen Soziallehre
- Die Kirche: Zentralistisch oder doch lieber subsidiär?
- Das Zweite Vatikanum und die Rolle der Laien
- Weltkirche gegen Ortskirche? Theologische Debatten
- „Der Hirt muss den Geruch seiner Herde annehmen“
8. Die Laien: Keine unmündigen Schafe
- Gleichheit in der Theorie, Unterordnung in der Praxis
- Eigenkirchen: Die Herrschaft der Laien
- Vereine: Mündige Laien und der Geist der Revolution
- Die Stunde der Laien
9. Das Konzil von Trient: Pluraler Katholizismus
- Das erfundene Konzil
- Mythos I: Das Tridentinische Seminar
- Mythos II: Das tridentinische Bischofsideal
- Trientische Weite oder tridentinische Enge?
- Mythos III: Die tridentinische Messe
- In der Tradition von Trient: Das Zweite Vatikanum
10. Franz von Assisi: Option einer Kirche der Armen
- Ein Papst mit Namen Franziskus
- Von der Kirche der Armen zur reichen Papstkirche
- Der Ketzer und der Heilige: Brüder im Geiste
- Eine charismatische Gemeinschaft wird verkirchlicht
- Sprengkraft einer Utopie
Zum Schluss: „Die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt“
- Gefährliche Erinnerung
- Das Dogma besiegt die Geschichte
- Historische Verantwortung