„Band zwischen Himmel und Erde“
Altorientalist Hans Neumann über Nippur als „heilige Stadt“ in vorislamischer Zeit
Über die herausragende Stellung von Nippur unter den sumerischen Städten im vorislamischen Mesopotamien hat Altorientalist Prof. Dr. Hans Neumann in der neuen Ringvorlesung „Heilige Orte“ gesprochen. In seinem Vortrag gab er einen Überblick über die Geschichte und religionspolitische Bedeutung, die die Stadt, die im heutigen Irak liegt, im Orient des 3. bis späten 2. Jahrtausends vor Christus innehatte. „Dieses Gewicht verdankte Nippur nicht wie damals üblich einer machtpolitischen, militärischen Dominanz. Vielmehr resultierte es aus seiner besonderen geistig-kulturellen und religiösen Bedeutung im südlichen Mesopotamien“, sagte er am Dienstagabend. Der gut besuchte Vortrag eröffnete die Ringvorlesung „Heilige Orte. Ursprünge und Wandlungen – Politische Interessen – Erinnerungskulturen“, zu der der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ im Wintersemester mit dem Centrum für Geschichte und Kultur des östlichen Mittelmeerraums (GKM) der Uni Münster einlädt.
Die Stadt Nippur liegt etwa 180 Kilometer südöstlich vom heutigen Bagdad entfernt. Sie beherbergte im Alten Orient das Heiligtum des Gottes Enlil, wie der Professor für Altorientalistik darlegte. Der dortige Tempel, das Ekur, sei zunächst nur von lokalem Gewicht gewesen. „Im Verlauf des 3. Jahrtausends nahm Enlil jedoch die führende Rolle im sumerischen Pantheon ein. Mit seinem Aufstieg zum Göttervater gewann auch die Stadt wirtschaftlich, politisch und kulturell an überregionaler Bedeutung für den gesamten sumerischen Süden Mesopotamiens.“ Belegen lässt sich dies nach den Worten des renommierten Keilschrift-Experten mithilfe von insgesamt etwa 40.000 Keilschrifttexten in sumerischer und babylonischer Sprache aus Nippur, die bis in das frühe 3. Jahrtausend zurückgehen und einen breitgefächerten Blick auf Kultur, Religion, Wissenschaft und Verwaltung sowie auf das politische, wirtschaftliche und private Leben in dieser altorientalischen Stadt erlauben.
„Entscheidende Rolle bei der Herrschaftslegitimation“
Nippur, das auch als „Band zwischen Himmel und Erde“ bezeichnet wurde, war laut Prof. Neumann selbst nie Ausgangspunkt eines Kampfes um politische Vormachtstellung. „Spätestens gegen Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus spielte die Stadt jedoch als religiöses Zentrum eine entscheidende Rolle für die Herrschaftslegitimation“, erläuterte der Forscher, der auch Vorstandsmitglied des GKM ist, in seinem Vortrag mit dem Titel „Nippur – Die heilige Stadt der Sumerer“. So hätten auch die Könige der über die Jahrhunderte hinweg wechselnden Herrscherdynastien Enlil und seinen Kult anerkannt. „Ohne Zustimmung und Wohlwollen des Gottes Enlil, und damit der Enlil-Priesterschaft, war eine dauerhafte politische Dominanz in Sumer nicht zu erlangen.“
Erst im zweiten Jahrtausend vor Christus, gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor Christus, verlor Nippur dem Wissenschaftler zufolge zunehmend an geistig-religiöser Bedeutung. „Mit dem Aufstieg der Götter Marduk in Babylonien und Aššur in Assyrien wurde Enlil schließlich aus der Rolle des obersten Gottes verdrängt.“ Dennoch habe Nippur bis in die hellenistische Zeit hinein immer wieder kulturelle Blütezeiten erlebt. Unklar bleibt laut Prof. Neumann, warum der Ort bereits vor dem Aufstieg Enlils erkennbar eine große Bedeutung besessen habe, da in der Ursprungszeit Nippurs noch keine Keilschriftquellen existiert hätten.
Ringvorlesung „Heilige Orte“
In der Ringvorlesung „Heilige Orte“ untersuchen namhafte Forscher im Wintersemester die historischen Ursprünge und Wandlungen religiöser Stätten wie Delphi, Jerusalem, Medina, Rom und Byzanz. Die Reihe geht auch den politischen und wirtschaftlichen Interessen sowie den Erinnerungskulturen nach, die sich mit den antiken Orten bis heute verbinden. Heilige Stätten entstanden oft an markanten Stellen in der Natur, an Quellen, auf Bergen oder in der Wüste. Religiöse Gemeinschaften verknüpften damit mythische Erzählungen und magische Rituale. Die Vorträge, die auch den Totenkult der Pharaonen, entlegene Orten von Mönchen und Einsiedlern und die ältesten Heiligtümer der Menschheit wie das Bergheiligtum Göbekli Tepe behandeln, eröffnen verschiedene Perspektiven auf die Religionsgeschichte der Menschheit. Zu Wort kommen Vertreter unterschiedlicher Fächer wie der Altorientalistik, Ur- und Frühgeschichte, Ägyptologie, Alten Geschichte, Klassischen Archäologie und Philologie, Bibelwissenschaften und Byzantinistik sowie Religions- und Islamwissenschaften.
Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Den nächsten Vortrag am 29. Oktober hält Ägyptologin Dr. Julia Budka aus Wien zum Thema „Abydos – Zentrum des Totenkultes der Pharaonen“. (han/vvm)
Wintersemester 2013/2014
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster