„Die religiöse Dimension ist fast verloren“

Führende Religionssoziologen empfehlen den christlichen Kirchen radikalen Wandel – Symposium zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Karl Gabriel

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 9. November 2013

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Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann, Prof. Dr. Karl Gabriel, Prof. Dr. Michael Ebertz, Prof. Dr. Detlef Pollack, Prof. Dr. Gerhard Wegner (v.r.)

Die christlichen Kirchen in Deutschland brauchen nach Einschätzung führender Religionssoziologen einen radikalen Wandel. Sie sollten ihre Religiosität und ihre Strukturen dringend erneuern, andernfalls gehe das Vertrauen der meisten Menschen endgültig verloren, sagten der Sozialethiker Prof. Dr. Karl Gabriel aus Münster und der Soziologe Prof. Dr. Michael Ebertz aus Freiburg am Freitagabend in Münster. Es gehe um eine überzeugendere Glaubensverkündigung und einen Weg „von der Kleriker- zur Laienkirche“. Ebertz sprach von einem „Transformationsprozess, der einer Revolution gleichkommt“. Der Bielefelder Soziologe Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann fügte hinzu: „In den Kirchen dominieren das Geld und das Recht. Die religiöse Dimension ist fast verloren gegangen.“ Die Wissenschaftler äußerten sich auf einem Symposium zur Zukunft der Kirchen des Centrums für Religion und Moderne (CRM) und des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Uni Münster zum 70. Geburtstag von Prof. Gabriel.

„Entscheidend wird sein, ob die katholische und die evangelische Kirche ihre religiöse Botschaft künftig so anbieten, dass die Menschen sie als überzeugende Lebensdeutung annehmen“, unterstrich Prof. Gabriel. Das könne im persönlichen Gespräch genauso gelingen wie in der Sonntagspredigt. Der Bochumer Religionswissenschaftler Prof. Dr. Volkhard Krech plädierte für eine Rückbesinnung der evangelischen Kirche „auf ihre Stärken wie rhetorisch überzeugende Predigten und eine theologische Sprache“. Die religiöse Kernaufgabe der Geistlichen solle wieder im Mittelpunkt stehen. „Wenn Pastoren nur Lebensberatung anbieten, ist das ein Ausverkauf.“ Im gesellschaftlichen „Wettbewerb um Lebenswahrheit“ müsse die Kirche ihre christliche Deutungskompetenz gegen „technokratische Irrsinnsfantasien“ verteidigen, so Prof. Krech.

„Kirche braucht Gewaltenteilung“

Die katholische Kirche wird sich nach Einschätzung von Prof. Ebertz aus Mangel an Priesternachwuchs „in einem Prozess des radikalen Wandels von einer Priesterkirche zur Laienkirche“ entwickeln. „Wir sind Zeitzeugen des Umbruchs. Was für Protestanten Programm war, ist für Katholiken zum Schicksal geworden: das Priestertum aller Gläubigen.“ Die Laien stehen dem Wissenschaftler zufolge künftig vor der doppelten Herausforderung, innerhalb der Kirche mehr Verantwortung zu übernehmen und außerhalb für ihre Botschaft einzustehen. Dazu seien neue Strukturen nötig: „Wer die Kirchen zukunftsfähig machen will, braucht Gewaltenteilung und synodale Strukturen der Mitverantwortung und Mitwirkung im System.“ Dabei kann die katholische Kirche nach Meinung von Prof. Gabriel von der evangelischen lernen: „Die katholische Priesterkirche ist jetzt mit vielem konfrontiert, etwa mit der zunehmenden Laisierung, womit die evangelische Kirche eine lange Lernerfahrung hat. Deshalb ist ein ökumenischer Dialog wichtig.“

Von einem „Verfall des Christentums“ lässt sich nach den Worten von Prof. Gabriel trotz steigender Kirchenaustritte und einer sinkenden Gottesdienstteilnahme nicht sprechen. „Das religiös Christliche ist in der Gesellschaft diffus vorhanden. Es ist stärker, als wir zunächst wahrnehmen.“ Für das Verständnis der Gesellschaft werde man auf das Christentum nicht verzichten können. „So viele überzeugende Alternativen zum Angebot der Kirchen gibt es nicht.“ Auch Prof. Kaufmann sagte, „das kollektive Ethos in Deutschland ist deutlich stärker vom Christentum geprägt als in vielen anderen Ländern.“ Zur Tagung „Was wird aus den christlichen Kirchen Deutschlands?“ hatten der Exzellenzcluster und das CRM eingeladen. (ska/vvm)