„Enorme kulturell-religiöse Vielfalt“

Historiker Scheller über Religionsvielfalt im Königreich Sizilien des 12. Jahrhunderts

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Prof. Dr. Benjamin Scheller

Über religiöse Vielfalt und Mehrdeutigkeit im Mittelalter hat Historiker Prof. Dr. Benjamin Scheller in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ gesprochen. Am Beispiel des Königsreichs Sizilien im 12. Jahrhundert zeigte der Forscher von der Universität Duisburg-Essen, dass Vorstellungen vom Mittelalter als einheitlich christlichem Abendland nicht zutreffen. „Unter der christlich-normannischen Herrschaft auf Sizilien gab es eine enorme kulturelle und religiöse Vielfalt. Griechische und lateinische Christen standen dort mit Muslimen und Konvertiten im ständigen Austausch.“ In seinem Vortrag legte der Forscher dar, wie diese Vielfalt von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhundert stetig wuchs dann aber einer Phase der religiösen Vereinheitlichung und Vertreibung von Muslimen wich.

„Wie ein Katalysator für die Gewalt gegen Muslime“

Mit zahlreichen Konversionen und einer Einwanderungspolitik, die mehr Christen ins Land brachte, versuchten die Normannenherrscher, die Machtverhältnisse auf Sizilien zu verändern, wie Prof. Scheller darlegte. „Bis ins 12. Jahrhundert waren Christen dort eine Minderheit.“ Dass die religiöse Vielfalt auf Sizilien wieder abnahm, lag dem Historiker zufolge auch daran, dass die Toleranz gegenüber religiöser Mehrdeutigkeit zurückging. „Misstrauisch standen viele Christen vor allem der Elite am Königshof von Palermo – den zum Christentum konvertierten Palastsarazenen – gegenüber.“ Diese einflussreichen Diplomaten galten in manchen Situationen als Christen, in anderen wiederum als Muslime, wie der Forscher erläuterte. „Lateinische und griechische Christen warfen ihnen – vielfach aus politischen Gründen – vor, sie seien heimliche Anhänger des Islams.“

Bei einer gewaltsamen Palastrevolution tötete der christliche Adel im Jahr 1161 laut Prof. Scheller viele der Palastsarazenen. „Das wirkte wie ein Katalysator für weitere Gewalt gegen alle Muslime auf Sizilien.“ Die Christen hätten dabei zwischen Muslimen und solchen, die zum Christentum konvertiert waren, keinen Unterschied gemacht. „Nach weitläufigen Verfolgungen und Deportationen kam praktisch die gesamte arabische Kultur auf Sizilien bis Mitte des 13. Jahrhunderts in kürzester Zeit zum Erliegen.“

Mittelalter als Epoche religiöser Vielfalt

Trotz historischer Wechsel zwischen Phasen religiöser Pluralität und Einheitlichkeit betrachtet der Forscher das Mittelalter als eine Epoche religiöser Vielfalt. „Allerdings war religiöse Vielfältigkeit nicht überall und zu allen Zeiten gleich stark ausgeprägt.“ Vielerorts sei das Zeitalter religiöser Pluralität im Verlauf des Spätmittelalters oder mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit geendet.

Der Vortrag trug den Titel „Religiöse Pluralität und religiöse Ambiguität im Mittelalter. Das Königreich Sizilien im 12. Jahrhundert“. Er wendete dabei das Konzept der Ambiguitätstoleranz an, das inzwischen aus der Psychologie auf die Kulturwissenschaft übertragen wird. Damit lässt sich beschreiben, wie tolerant oder intolerant Gesellschaften mit Mehrdeutigkeit in religiösen oder weltanschaulichen Fragen umgehen. Prof. Scheller lehrt spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

Ringvorlesung „Religiöse Vielfalt“

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Plakat der Ringvorlesung

Die Ringvorlesung „Religiöse Vielfalt“ des Exzellenzclusters und des neuen „Centrums für Religion und Moderne“ (CRM) analysiert Beispiele religiöser Pluralität von der Antike über das Mittelalter und die Frühneuzeit bis zu Deutschland, England, China und den USA heute. Die Vorträge mit anschließender Diskussion sind dienstags ab 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Kommende Woche spricht die Soziologin Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher von der Goethe-Universität Frankfurt a. M. zum Thema „Das Sozialkapital der Religionen“. (han/vvm)